Gesetzgebung

Auswirkungen des Beitritts der Union auf die Stellung der EMRK innerhalb der deutschen Rechtsordnung

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von Daniel Engel, Universität Augsburg

Mit dem vor rund einem Jahr finalisierten Abkommensentwurf über den Beitritt der Union zur EMRK (PDF, 439 KB) scheint diesbezüglich das Ende einer schier unendlichen Geschichte in greifbare Nähe gerückt zu sein. Derzeit ist es am EuGH, per Gutachten (Az. 2/13) über die Vereinbarkeit des Beitrittsvertrages mit den unionsrechtlichen Voraussetzungen aus Art. 6 Abs. 2 EUV und Protokoll (Nr. 8) zu befinden. Der Beitrittsvertrag selbst behandelt ausschließlich die Modalitäten des Beitritts der Union zur EMRK, indem er etwa deren institutionelle Beteiligung am Straßburger Gerichtshof regelt und neuartige Verfahrensweisen, wie den co-respondent-Mechanismus und das Vorabbefassungsverfahren, vor dem EGMR einführt, um den Besonderheiten der Union im Individualbeschwerdeverfahren gerecht zu werden. Die Auswirkungen des Beitritts der Union zur EMRK werden sich indes nicht ausschließlich auf das Verhältnis der Union zur EMRK beschränken, sondern auch die Stellung der EMRK innerhalb der deutschen Rechtsordnung modifizieren, obwohl Deutschland selbst bereits seit dem Jahre 1953 Vertragspartei der EMRK ist.

Aus deutscher Perspektive handelt es sich bei der EMRK bislang um einen völkerrechtlichen Vertrag, der gemäß Art. 59 Abs. 2 GG in der deutschen Rechtsordnung den Rang eines Bundesgesetzes einnimmt. Da aufgrund der lex posterior-Regel ein Vorrang der EMRK vor später ergangenen Bundesgesetzen nicht gesichert ist, hat das Bundesverfassungsgericht die Stellung der EMRK insbesondere in seiner Görgülü-Rechtsprechung erheblich aufgewertet. Darin hat das Bundesverfassungsgericht aus der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes abgeleitet, dass die Konventionsrechte in ihrer Auslegung durch den EGMR auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfe für die grundgesetzlich verbürgten Rechte dienten. Daher kommt der EMRK nach aktueller Rechtslage innerhalb der deutschen Rechtsordnung ein Rang zwischen einfachem Bundesgesetz und Grundgesetz zu.

Der Beitritt der Union zur EMRK vermag diesen Status der EMRK indes zu ändern. Hintergrund dessen ist die Stellung der EMRK innerhalb der Unionsrechtsordnung, sollte das Abkommen letzten Endes ratifiziert werden und für die Union in Kraft treten. Als völkerrechtliches Abkommen der Union wird die EMRK nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH einen integralen Bestandteil der Unionsrechtsordnung darstellen und daher nach herrschender Meinung unionsrechtlich einen Rang einnehmen, der zwischen dem Sekundär- und dem Primärrecht liegt (sog. „Mezzanin“-Ebene). Daneben resultiert aus Art. 216 Abs. 2 AEUV, dass die EMRK als völkerrechtliches Abkommen der EU sowohl die Organe der Union als auch die Mitgliedstaaten bindet. Ist aber die EMRK nach erfolgtem Beitritt der Union Teil der Unionsrechtsordnung und normenhierarchisch gar über den Sekundärrechtsakten aus Art. 288 AEUV – sprich Verordnung, Richtlinie und Beschluss – angesiedelt, so nimmt sie zugleich Anteil am Anwendungsvorrang des Unionsrechts im Sinne der EuGH-Entscheidung in Costa/ENEL. Für die deutsche Rechtsordnung hat dies grundsätzlich zur Folge, dass die EMRK mittelbar – über ihre Teilhabe am Anwendungsvorrang – aus der Perspektive der deutschen Rechtsordnung nicht nur über deutschen Landes- und Bundesgesetzen stünde, sondern auch im Rang über der deutschen Verfassung, die nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ebenfalls aufgrund des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs verdrängt wird.

Diese Schlussfolgerung wirft aus Sicht der deutschen Rechtsordnung die Folgefrage nach der Reichweite eines derartigen „Anwendungsvorrangs der EMRK“ auf. Dabei wird in der Literatur verstärkt die Ansicht vertreten, aus Art. 216 Abs. 2 AEUV folge, dass die EMRK eine generelle Bindungswirkung für die Mitgliedstaaten entfalte und mithin der nationalen Rechtsordnung in allen Sachverhalten vorgehe, in denen der Anwendungsbereich der EMRK eröffnet ist. Im Falle der EMRK, die als menschenrechtlicher Vertrag alle nationalen Regelungsebenen durchdringt, wäre mit dieser Lösung verbunden, dass die EMRK faktisch immer einen Rang über dem deutschen Grundgesetz einnehmen würde.

Dieses Ergebnis erscheint zwar in Anbetracht des Regelungsgehalts von Art. 216 Abs. 2 AEUV, der eine generelle Bindung der Mitgliedstaaten an die von der EU abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge ausspricht, konsequent, vermag aber dennoch nicht zu überzeugen. Art. 216 Abs. 2 AEUV ist im Zusammenhang mit Art. 216 Abs. 1 AEUV zu lesen, welcher die Vertragsschlusskompetenzen der Union regelt. Art. 216 Abs. 1 AEUV liegt die Konzeption zugrunde, dass die Union in denjenigen Bereichen, in denen sie durch die Mitgliedstaaten mit Kompetenzen ausgestattet wurde, den europäischen Verbund völkerrechtlich vertreten kann. Art. 216 Abs. 2 AEUV stellt sodann unionsintern sicher, dass die Mitgliedstaaten die von der Union abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge beachten, um zu vermeiden, dass die völkerrechtliche Verantwortlichkeit der Union durch mitgliedstaatliches Handeln ausgelöst wird. Daraus folgt indes, dass der Sinn und Zweck von Art. 216 Abs. 2 AEUV die mitgliedstaatliche Bindung an ein Abkommens der EU nur soweit gebietet, wie das Risiko einer völkerrechtlichen Verantwortlichkeit der EU im Außenverhältnis reicht. Nach erfolgtem Beitritt der EU zur EMRK kann eine Verantwortlichkeit der Union für das Handeln ihrer Mitgliedstaaten entsprechend der Systematik des Beitrittsvertrages jedoch überhaupt nur bestehen, soweit diese eine unionsrechtliche Rechtsgrundlage vollziehen. Daraus kann geschlossen werden, dass die unionsrechtliche Bindungswirkung der EMRK gemäß Art. 216 Abs. 2 AEUV für die Mitgliedstaaten nur besteht, soweit sie selbst unionsrechtliche Vorgaben vollziehen.

Diese Lösung vermeidet zugleich, dass im Wege des Beitritts der Union zur EMRK reine Inlandssachverhalte dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts unterworfen werden und damit weitreichend in die Kompetenzen der Mitgliedstaaten eingegriffen wird. Sie überzeugt zudem, da sie grundsätzlich geeignet ist, aus Sicht der Mitgliedstaaten einen weitreichenden Gleichlauf zwischen dem Anwendungsbereich der Grundrechtecharta (GrCH) und der unionsrechtlichen Bindung an die EMRK herzustellen. Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GrCH sieht eine Anwendbarkeit der Grundrechtecharta für die Mitgliedstaaten ausschließlich für den Fall der „Durchführung des Rechts der Union“ vor und damit insbesondere in der Konstellation des indirekten Vollzugs. Da die EMRK wegen Art. 52 Abs. 3 GrCH und Art. 53 GrCH zugleich den Mindeststandard innerhalb der Gewährleistungen der Grundrechtecharta garantiert, kann auf diesem Wege Kohärenz hinsichtlich der Anwendungsbereiche beider Grundrechtskataloge aus der Perspektive der Mitgliedstaaten hergestellt werden. Umso bedauerlicher erscheint in diesem Zusammenhang der aufkeimende Konflikt zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem EuGH hinsichtlich der Auslegung von Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GrCH. Während der EuGH in der Rs. Åkerberg Fransson den Anwendungsbereich der Grundrechtecharta mit dem Anwendungsbereich des Unionsrechts gleichstellte, hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur Antiterrordatei eine derart weitreichende Auslegung als möglichen ultra vires-Akt zurückgewiesen.

Zusammenfassend lässt sich damit festhalten, dass die Mitgliedstaaten über Art. 216 Abs. 2 AEUV nur soweit unionsrechtlich an die EMRK gebunden werden, als sie Unionsrecht vollziehen. Dabei sind sie zugleich gemäß Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GrCH an die Grundrechtecharta gebunden und können gemäß Art. 1 Abs. 4 Beitrittsvertrag völkerrechtlich unter der EMRK verantwortlich gemacht werden. In allen anderen Sachverhalten besteht unionsrechtlich hingegen keine Verpflichtung auf die EMRK. Vielmehr existiert eine rein völkerrechtliche Bindung, die ein Individualbeschwerdeführer wie vor dem Beitritt der Union auch im Wege der Individualbeschwerde gegen den Mitgliedstaat einfordern kann.

Zuletzt ist bei dieser Lösung jedoch darauf hinzuweisen, dass der EMRK in der deutschen Rechtsordnung damit eine Doppelstellung zukommt: Soweit Deutschland in Vollziehung des Unionsrechts handelt, geht die EMRK aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts der gesamten deutschen Rechtsordnung, inklusive des Grundgesetzes, vor und besitzt eine Art „Überverfassungsrang“. In allen anderen Konstellationen bleibt es bei der Anwendung der Görgülü-Grundsätze des Bundesverfassungsgerichts, so dass die EMRK einen Rang zwischen Bundesgesetz und Grundgesetz innehat. Damit zeigt sich, dass der Beitritt der Union zur EMRK für die Normenhierarchie der deutschen Rechtsordnung einige offene Fragen aufwirft, welche das Menschenrechtsdreieck Karlsruhe – Luxemburg – Straßburg noch auf längere Zeit beschäftigen wird, ehe das Verhältnis aller drei Grundrechtskataloge perfekt austariert sein wird. Vielleicht mag sich über kurz oder lang doch ein Blick über die Grenze nach Österreich lohnen. Dort genießt die EMRK Verfassungsrang. Das würde wenigstens ein Problem des Mehrebenensystems beheben.

 

Anmerkung der Redaktion

Daniel Engel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht sowie Sportrecht von Prof. Dr. Christoph Vedder an der Juristischen Fakultät der Universität Augsburg und promoviert über das Individualbeschwerdeverfahren vor dem EGMR nach Beitritt der EU zur EMRK.

Andere Aspekte des Beitritts der EU zur EMRK, i.e. dessen Auswirkungen auf europäischer Ebene, namentlich auf das Verhältnis der Union zur EMRK und den Vorrang des Unionsrechts, waren bereits Gegenstand einer Diskussion im Verfassungsblog:

Thym, Ein trojanisches Pferd? Der Vorrang des Unionsrechts im Lichte des Beitrittsübereinkommens der EU zur EMRK, Verfassungsblog v. 11.09.2013

Breuer, Kein Danaergeschenk! Eine Erwiderung auf Daniel Thyms „Ein trojanisches Pferd?”, Verfassungsblog v. 16.09.2013

Streinz, Hoffentlich keine Odyssee – Der Beitritt der EU zur EMRK, Verfassungsblog v. 30.09.2013

 

Net-Dokument BayRVR2014031801