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Verfassungsklage des Freistaates Bayern gegen den Bund wegen Flüchtlingspolitik?

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BVerfG_Fotolia_81108937_S_copyright - passvon Prof. Dr. Josef Franz Lindner, Universität Augsburg

Im Zusammenhang mit den steigenden Flüchtlings- und Asylbewerberzahlen ist von Seiten der Bayerischen Staatsregierung (im Folgenden: Staatsregierung) eine Begrenzung des Zuzugs und in diesem Kontext eine konsequentere Überwachung der deutschen Außengrenzen gefordert worden. Zudem erwägt die Staatsregierung eine Verfassungsklage gegen die Bundesrepublik Deutschland. Nach einem Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (05.11.2015, S. 2) hat die Staatsregierung diesbezüglich ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, das sich insbesondere mit der Frage befassen solle, ob die aktuelle Flüchtlingspolitik der Bundes, zumal im Hinblick auf die Überwachung und Sicherung der Außengrenzen, verfassungskonform sei.

Zielsetzung dieses Beitrags ist es, Möglichkeiten und Erfolgsaussichten einer Verfassungsklage des Freistaates Bayern gegen den Bund auszuloten. Jenseits der politischen und moralischen Bewertung der Flüchtlingspolitik sind aus verfassungsrechtlicher und verfassungsprozessualer Sicht drei Fragen zu unterscheiden:

(1) Welche Verfahrensart vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) kommt für die von der Staatsregierung avisierte Klage des Freistaates Bayern gegen die Bundesrepublik Deutschland überhaupt in Betracht?
(2) Könnte der Freistaat Bayern ein entsprechendes Verfahren überhaupt in zulässiger Weise in Gang bringen?
(3) Könnte ein entsprechendes Verfahren in der Sache begründet sein?

1. Statthafte Verfahrensart

a) Ein Organstreitverfahren nach 93 Abs. 1 Nr. 1 GG i.V.m. §§ 13 Abs. 1 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG dürfte ausscheiden. Zwar kann sich auch ein solches Verfahren auf die Feststellung einer Pflichtverletzung der Bundesregierung beziehen. Voraussetzung für die Statthaftigkeit ist jedoch, dass es sich um eine verfassungsrechtliche Streitigkeit zwischen obersten Bundesorganen oder anderen Beteiligten handelt, die durch das Grundgesetz oder eine Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind. In einem solchen Verfahren wäre die Staatsregierung also nicht antragsberechtigt, da sie weder ein Staatsorgan der Bundesrepublik Deutschland ist noch mit organschaftlichen Rechten seitens des Grundgesetzes ausgestattet ist. Antragsberechtigt wäre allenfalls der Bundesrat als oberstes Staatsorgan, dessen Mitglieder die Mitglieder der Regierungen der Länder, damit auch des Freistaates Bayern, sind. Allerdings ist nicht erkennbar, inwieweit der Bundesrat durch die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung in verfassungsrechtlichen Rechten verletzt sein sollte.

b) Zu denken wäre an eine abstrakte Normenkontrolle nach 93 Abs. 1 Nr. 2 GG i.V.m. §§ 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG. Danach entscheidet das BVerfG bei Meinungsverschiedenheiten oder Zweifeln über die förmliche und sachliche Vereinbarkeit von Bundesrecht oder Landesrecht mit dem Grundgesetz. In diesem Verfahren wäre die Staatsregierung als „Landesregierung“ des Freistaats Bayern zwar antragsberechtigt. Jedoch erweist sich auch diese Verfahrensart als nicht zielführend. Denn sie könnte sich als (abstrakte) Normenkontrolle lediglich auf die Vereinbarkeit der Rechtsgrundlagen des Flüchtlingsrechts mit dem Grundgesetz richten. Es dürfte aber nicht in erster Linie die Stoßrichtung der Staatsregierung sein, die Verfassungskonformität der Rechtsgrundlagen der Asyl-, Flüchtlings- und Grenzpolitik in Frage zu stellen, sondern den – aus ihrer Sicht – unzureichenden Vollzug dieser Rechtsgrundlagen. Der Vollzug von Bundesgesetzen kann jedoch nicht Gegenstand einer abstrakten Normenkontrolle sein. Etwas anderes könnte zwar dann gelten, wenn die Rechtsgrundlagen so konzipiert wären, dass ein verfassungskonformer Vollzug ausgeschlossen oder ein effektiver Vollzug faktisch unmöglich wäre. Ein solcher Vorhalt ist jedoch in der derzeitigen politischen Diskussion nicht erkennbar.

c) Ernsthaft in Betracht kommt daher als Verfahrensart nur der sog. „Bund-Länder-Streit“ nach 93 Abs. 1 Nr. 3 GG i.V.m. §§ 13 Nr. 7, 68 ff. BVerfGG. In diesem Verfahren können Meinungsverschiedenheit über Rechte und Pflichten des Bundes und der Länder, insbesondere bei der Ausführung von Bundesrecht, ausgetragen werden. Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG setzt eine verfassungsrechtliche Streitigkeit zwischen Bund und Ländern oder einem Land voraus (zur Abgrenzung von Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 zu Nr. 4 GG siehe Lindner, Öffentliches Recht, 2012, Rn. 407).

2. Zulässigkeitsvoraussetzungen eines Antrags nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG

Ist der Bund-Länder-Streit für das politisch in den Raum gestellte verfassungsgerichtliche Vorgehen des Freistaates Bayern gegen die Bundesregierung die statthafte Verfahrensart, steht damit noch nicht fest, dass der Freistaat Bayern ein solches Verfahren auch in zulässiger Weise in Gang setzen könnte. Dafür müssten neben der statthaften Verfahrensart auch die übrigen Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllt oder erfüllbar sein.

a) Der Freistaat Bayern ist in einem solchen Verfahren aktiv parteifähig. Partei ist nicht die Staatsregierung als solche, sondern der Freistaat Bayern. Antragsberechtigt für das Land ist die Staatsregierung. Zwar ist in der verfassungsprozessualen Literatur streitig, ob es sich hierbei um einen Fall der Prozessstandschaft handelt, ob also die Staatsregierung einen Anspruch des Freistaates Bayern gegen den Bund in eigenem Namen geltend macht oder ob es sich um eine Frage der Prozessfähigkeit handelt, die Staatsregierung den Freistaat Bayern also im Bund-Länder-Streit vor dem BVerfG vertritt. Vorzugswürdig dürfte die zweite Auffassung sein. Zwar heißt es in § 68 BVerfGG, dass Antragsteller und Antragsgegner nur sein können: „Für den Bund die Bundesregierung, für ein Land die Landesregierung“. Jedoch dürfte sich aus dieser Formulierung noch nicht der Wille des Gesetzgebers ableiten lassen, dass nicht das Land selbst, sondern die Landesregierung Partei sein solle. Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG spricht dementsprechend auch nicht über die Rechte und Pflichten der Bundesregierung oder einer Landesregierung, sondern von Rechten und Pflichten des Bundes und der Länder.

b) Jedenfalls nicht antragsberechtigt wäre der bayerische Landtag, der die Staatsregierung allenfalls politisch dazu auffordern könnte, in einem Bund-Länder-Streit vor dem BVerfG gegen die Bundesregierung vorzugehen. Voraussetzung für eine wirksame Antragstellung wäre jedenfalls ein ordnungsgemäßer Kabinettsbeschluss der Staatsregierung. Dies richtet sich nach den Normen der Geschäftsordnung der Staatsregierung (vgl. auch Art. 54 BV).

c) Des Weiteren müsste die Staatsregierung einen zulässigen Antragsgegenstand benennen können. Was im Rahmen eines Bund-Länder-Streits nach 93 Abs. 1 Nr. 3 GG eigentlich zulässiger Antragsgegenstand sein kann, ist in Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG nicht ausdrücklich bestimmt. Anzusetzen ist bei den Begriffen „Rechte und Pflichten des Bundes und der Länder“. Im Hinblick auf diese Formulierung kann Gegenstand des Bund-Länder-Streits jede Handlung, Duldung oder Unterlassung (so auch § 64 Abs. 2 BVerfGG) des Bundes oder eines Landes sein, welche normativer Bezugspunkt einer Pflicht oder eines Rechtes entweder des Bundes oder des Landes sein kann. Will ein Land also einen Bund-Länder-Streit initiieren, hat es in der schriftlichen Antragsschrift (§ 23 Abs. 1 BVerfGG i.V.m. §§ 69, 64 Abs. 2 BVerfGG) plausibel und substantiiert eine Maßnahme (oder Unterlassung) zu benennen, durch die der Bund gegen seine Pflichten verstoßen habe. Im vorliegenden Zusammenhang müsste der Freistaat Bayern in der Antragsschrift also geltend machen, auf welche Maßnahme er sich konkret bezieht. In Betracht käme wohl in erster Linie das Unterlassen eines wirksamen Vollzugs der entsprechenden bundes- und europarechtlichen Rechtsgrundlagen betreffend Grenzsicherung und Asylverfahren. Eher als abwegig erschiene es, als maßgeblichen Gegenstand des Verfahrens die Äußerung der Bundeskanzlerin „Wir schaffen das“ anzusehen, da dieser Äußerung die Rechterheblichkeit fehlen dürfte, sie vielmehr allein im politischen Raum anzusiedeln ist.

d) Zu beachten ist dabei, dass der Antrag nach §§ 64 Abs. 3, 69 BVerfGG „binnen sechs Monaten, nachdem die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung dem Antragsteller bekannt geworden ist“, zu stellen ist. Fraglich ist, wann diese Frist – eine Ausschlussfrist – eigentlich zu laufen beginnt. Bei einem Unterlassen könnte man einerseits auf das erstmalige Unterlassen abstellen, andererseits aber auch der Auffassung sein, mit jedem Unterlassen beginne die Frist erneut zu laufen. Wollte die Staatsregierung auf „Nummer sicher“ gehen, müsste sie die Antragsschrift sechs Monate nach dem Zeitpunkt einreichen, in dem sie zum ersten Mal einen Verstoß des Bundes gegen seine Pflichten für gegeben erachtet und der Bund dem trotz Aufforderung nicht abgeholfen hat.

e) Des Weiteren müsste der Freistaat Bayern eine Antragsbefugnis geltend machen können. Es würde also nicht genügen, lediglich vorzutragen, dass der Bund durch die angebliche Unterlassung effektiver Maßnahmen im Grenzschutz und beim Asylverfahren gegen Pflichten verstoßen habe. Vielmehr muss geltend gemacht werden, dass der Bund durch dieses Unterlassen eigene verfassungsrechtliche Rechte des antragsstellenden Landes verletzt hat. Für die Zulässigkeit ist es ausreichend, wenn nach dem Sachvortrag des antragstellenden Landes eine Rechtsverletzung durch den Bund möglich erscheint. Das geltend gemachte Recht muss sich unmittelbar aus dem Grundgesetz ergeben. Fraglich ist – und dies wird für die Zulässigkeit eines entsprechenden Verfahrens entscheidend sein –, auf welches Recht sich der Freistaat Bayern im vorliegenden Zusammenhang beziehen kann. Ausgangspunkt dabei ist, dass die Grenz- und Asylpolitik der Bundesrepublik Deutschland nicht nur in die Gesetzgebungskompetenz des Bundes, sondern auch in dessen Verwaltungskompetenz fällt (Art. 87 GG i.V.m. § 5 Asylgesetz; § 2 Bundespolizeigesetz). Entgegen dem Regelfall der Landeseigenverwaltung nach Art. 83, 84 GG führt der Bund die hier interessierenden (teilweise auch europarechtlichen) Normen des Asylrechts und des Bundespolizeigesetzes mit eigenen Behörden und damit in eigener Verwaltungskompetenz aus. Daraus ergeben sich für die Frage, ob der Freistaat Bayern eine Verletzung eigener Rechte durch die Bundesregierung, die für den Vollzug der Bundesgesetze verantwortlich ist, geltend machen kann, folgende Konsequenzen:

  • Das Grundgesetz räumt den Ländern keinen eigenen Anspruch darauf ein, dass der Bund Bundesgesetze und Europarecht vollzieht. Art. 86 ff. GG und die einschlägigen Rechtsgrundlagen in den genannten Bundesgesetzen (Asylgesetz, Bundespolizeigesetz) und im EU-Recht sind nicht in dem Sinn „drittschützend“, dass die Länder daraus eigene Rechte ableiten könnten. Ein Land hat gegen den Bund keinen Anspruch darauf, dass bzw. in welcher Weise dieser ein Bundesgesetz vollzieht. Ein Land kann auch nicht aus eigener Rechtsposition geltend machen, dass der Bund ein Bundesgesetz fehlerhaft oder ungenügend, insbesondere nicht hinreichend effektiv vollziehe. Etwas anderes kann nur dann gelten, wenn im Nichtvollzug oder im ungenügenden Vollzug von Bundesgesetzen in der Verwaltungszuständigkeit des Bundes zugleich eine andere Rechtsposition des Landes verletzt wird. Die Antragsbefugnis ergibt sich dann aber nicht daraus, dass der Bund durch den unterbliebenen oder fehlerhaften Vollzug eines Bundesgesetzes eben dadurch Rechte des Landes verletzt hat, sondern erst und nur aus diesem anderen Recht, das ebenfalls ein verfassungsrechtlich verbürgtes Recht sein muss.
  • Ein solches verfassungsmäßiges Recht könnte sich aus der durch das Grundgesetz verbürgten Eigenstaatlichkeit der Länder ergeben. Das Grundgesetz verfasst nicht nur die Bundesrepublik Deutschland als Staat, sondern weist auch den Ländern Staatsqualität zu (vgl. BVerfGE 96, 345; zur Staatsqualität des Freistaates Bayern s. Lindner, Bayerisches Staatsrecht, 2011, Rn. 6 ff.). Mit der Eigenstaatlichkeit der Länder korrespondiert unter anderem ein verfassungsrechtliches Recht darauf, über substanzielle Kompetenzen in der Gesetzgebung zu verfügen, die jeweiligen (landes)staatlichen Aufgaben effektiv erfüllen zu können und hierfür über die erforderlichen Finanzmittel zu verfügen. Ein denkbarer Ansatzpunkt für die plausible Geltendmachung einer Antragsbefugnis des Freistaates Bayern im Bund-Länder-Streit könnte also sein, dass der Freistaat Bayern vorträgt, er werde durch einen unzureichenden Vollzug der asylverfahrens- und grenzschutzrechtlichen Vorschriften durch den Bund und infolge der damit verbundenen Vielzahl an Flüchtlingen außer Stande gesetzt, seine staatlichen Aufgaben noch zu erfüllen. Der Freistaat Bayern müsste dementsprechend Tatsachen vortragen, die es zumindest als möglich erscheinen lassen, dass er in seiner Funktionsfähigkeit in einem Maß beschränkt ist, welches ein ordnungsgemäßes staatliches Handeln ausschließt oder wesentlich erschwert. Zudem müsste dargetan werden, dass dies durch einen unzureichenden Vollzug der Bundesgesetze durch den Bund verursacht wird. Ob durch die hohe Anzahl an Flüchtlingen und Asylsuchenden die Funktionsfähigkeit des Freistaates tatsächlich aufgehoben oder eingeschränkt ist oder gar die Integrität des Staates Bayern verletzt ist, dürfte indes keine Frage der Zulässigkeit mehr, sondern erst eine solche der Begründetheit sein.
  • Fraglich ist, ob man zusätzlich zum Aspekt der Eigenstaatlichkeit, die dem Freistaat Bayern eine eigene verfassungsrechtliche Rechtsposition verleiht, den ungeschriebenen verfassungsrechtlichen Grundsatz der Bundestreue für eine Begründung der Antragsbefugnis benötigt. Man könnte argumentieren, dass der Grundsatz der Bundestreue den Bund (bzw. die Bundesregierung als die für den Vollzug der Bundesgesetze politisch und rechtlich verantwortliche Stelle) dazu verpflichtet, bei der Ausführung der bundesrechtlichen Regelungen zum Asylverfahren und zum Grenzschutz auf die Eigenstaatlichkeit der Länder Rücksicht zu nehmen. Letztlich wird man aber bereits aus der Rechtsposition der Eigenstaatlichkeit des Landes selbst einen entsprechenden Anspruch auf Beachtung ableiten können, ohne dass es zusätzlich des Grundsatzes der Bundestreue bedürfte.

3. Inhaltliche Erfolgsaussichten

Das BVerfG prüft im Rahmen der Begründetheit, ob die beanstandete Maßnahme des Antragsgegners, also hier wohl: ein angebliches Unterlassen des Bundes, verfassungswidrig ist und Rechte des klagenden Landes verletzt. Das BVerfG müsste mithin untersuchen, ob der Antragsgegner (also der Bund, vertreten durch die Bundesregierung) durch den konkreten Vollzug der einschlägigen Rechtsgrundlagen des Asyl- und Grenzrechts die aus der Eigenstaatlichkeit der Länder folgenden Rechte verletzt hat. Genauer müsste das BVerfG also die Frage ventilieren, ob der Bund durch die Art und Weise des Vollzugs der bundesrechtlichen Vorschriften eine Situation geschaffen hat, die es dem Freistaat Bayern in tatsächlicher Hinsicht unmöglich macht oder wesentlich erschwert, seine eigenen Aufgaben zu erfüllen (wozu auch die Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge selbst gehört). Da zur Landesstaatlichkeit im verfassungsrechtlichen Sinne auch die Kommunen, also die Landkreise und Gemeinden gehören, kann sich eine Gefährdung der Eigenstaatlichkeit des Freistaats Bayern auch dadurch ergeben, dass die Gemeinden und Landkreise in ihrer Funktionsfähigkeit in verfassungsrechtlich erheblicher Weise beeinträchtigt sind. Allerdings – dies sei hier nebenbei erwähnt – kann der Freistaat Bayern einen Bund-Länder-Streit nicht mit der Begründung führen, durch einen unzureichenden Vollzug der Bundesgesetze würde das kommunale Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden dadurch verletzt, dass diesen in einem so erheblichen Maße Lasten auferlegt werden, dass sie ihre eigentlichen Aufgaben nicht mehr erfüllen könnten. Eine solche Verletzung des kommunalen Selbstverwaltungsrechts könnte allenfalls von den Kommunen selbst im Rahmen einer Kommunalverfassungsbeschwerde unter den Voraussetzungen des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG geltend gemacht werden.

Da es einen sachlich und rechtlich vergleichbaren Bund-Länder-Streit vor dem BVerfG bislang nicht gegeben hat, sind die Maßstäbe unklar, die bei der Beurteilung der Frage anzulegen wären, ob das Maß der Belastung eines Landes durch Vollzugsfolgen der Bundesverwaltung bereits die Schwelle überschritten hat, dass man von einer Gefährdung der Eigenstaatlichkeit der Landes ausgehen muss. Es ist anzunehmen, dass das BVerfG die entsprechende Schwelle hoch ansetzen würde. Denn angesichts der Unvorhersehbarkeit politischer Umstände und der Tatsache, dass der Vollzug von Bundesgesetzen durch den Bund (oder auch die Länder selbst) stets auch zu massiveren Belastungen der Länder führen kann, wird man nicht davon ausgehen können, dass Belastungen auch erheblicherer Art für ein Land die Schwelle zur Gefährdung der verfassungsrechtlich verbürgten Eigenständigkeit überschreiten. Vollzugsfolgenbelastungen sind hinzunehmen – jedenfalls dann, wenn der Vollzug selbst rechtmäßig und insbesondere ermessensfehlerfrei ist. Letztlich würde man vor dem BVerfG eine umfassende Bestandsaufnahme anstellen müssen: Dabei wäre die finanzielle, organisatorische und personelle Leistungsfähigkeit des Landes ebenso in Rechnung zu stellen wie die Möglichkeit einer „Verteilung“ von Flüchtlingen in andere Länder innerhalb Deutschlands oder der EU. Das zeitliche Ausmaß der Belastung würde man ebenso in Ansatz zu bringen haben wie vom Bund angebotene zusätzliche Hilfeleistungen finanzieller oder organisatorischer Art. Insgesamt würde man die Leistungsfähigkeit des gesamten Landes auf den Prüfstand stellen müssen. Ebenfalls wäre die Frage zu klären, ob überproportionale Belastungen in einzelnen Teilen des Landes (also z.B. an den Grenzen des Freistaats Bayern zu Österreich oder der Tschechischen Republik) gewissermaßen zu einer partiellen Gefährdung der Eigenständigkeit des Landes in diesem konkreten Bereich führen können (und ob dies ausreichend ist für eine Begründetheit des Bund-Länder-Streits).

In Würdigung all dessen dürften die Erfolgsaussichten eines Antrags des Freistaats Bayern nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG mit der Begründung einer Gefährdung der Eigenstaatlichkeit eher als gering einzuschätzen sein. Allerdings würde das BVerfG auch berücksichtigen müssen, wie sich die Dinge im Verlaufe der Zeit weiterentwickeln.

4. Fazit

Die politische Ankündigung der Staatsregierung, gegen die Bundesregierung wegen angeblich ungenügenden Vollzugs der Normen über das Asylverfahren und die Grenzsicherung vor dem BVerfG vorzugehen, birgt eine Fülle von verfassungsrechtlichen und verfassungsprozessualen Fragen. Diese konnten vorstehend nur angerissen werden. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass mit dem Bund-Länder-Streit nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG zumindest eine Verfahrensart zur Verfügung steht, im Rahmen derer sich das beabsichtigte Vorgehen der Staatsregierung realisieren ließe. Auch kämen mit der Eigenstaatlichkeit des Landes und dem Grundsatz der Bundestreue verfassungsrechtliche Aspekte ins Spiel, auf die sich der Freistaat Bayern im Sinne eines verfassungsrechtlichen Rechts berufen könnte. Äußerst fraglich ist jedoch, ab welcher Belastungsschwelle man eine Verletzung der Eigenstaatlichkeit annehmen könnte. Käme es tatsächlich zu dem angekündigten Verfahren, muss man kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass das BVerfG die verfassungsrechtlich relevante Belastungsschwelle wohl eher am oberen Ende der Skala ansetzen würde.

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Zitiervorschlag: Lindner, Verfassungsklage des Freistaates Bayern gegen den Bund wegen Flüchtlingspolitik?, BayRVR, Net-Dokument BayRVR2015111101, www.bayrvr.de

Redaktionelle Anmerkung

Foto: K. Satzinger-VielProf. Dr. Josef Franz Lindner ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Medizinrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Augsburg. Der Lehrstuhl widmet sich dem Öffentlichen Recht in der gesamten Breite, den philosophischen Grundlagen des Rechts sowie dem Bio-, Medizin- und Gesundheitsrecht. Die Forschungsschwerpunkte im Öffentl. Recht liegen u.a. beim Staats- und Verfassungsrecht unter besonderer Berücksichtigung des Grundrechtsschutzes und des Verfassungsrechts des Freistaates Bayern sowie beim Öffentl. Recht im europ. Mehrebenensystem.