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Rezension: Richter (Hrsg.), Privatheit, Öffentlichkeit und demokratische Willensbildung in Zeiten von Big Data

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Rezension_Fotolia_91184109_S_copyright - passvon Dr. Sönke E. Schulz

Die zunehmende Digitalisierung weiter Teile des gesellschaftlichen, poli­tischen und wirtschaftlichen Lebens ist nicht nur eine Herausforderung für jeden Einzelnen, sondern auch für Politik, Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung. Welche Auswirkungen diese Entwicklungen (vom BVerfG als Übergang zu einer technisierten Infor­ma­tionsgesellschaft beschrieben) auf das (Verfassungs-)Rechtssystem haben, konnte in der juristischen Literatur bisher nicht umfassend geklärt werden. Dies gilt bspw. auch für das Themenfeld „Big Data“, welches primär unter dem Blickwinkel des Daten- und Persönlichkeitsschutzes, insbesondere im Versicherungs- und Gesundheits­umfeld, analysiert wird.

Aufzuzeigen, dass die Auswirkungen von Big Data aber nicht darauf beschränkt sind, ist das Verdienst einer Tagung, die im Januar 2014 am Wissenschaftlichen Zentrum für Informationstechnikgestaltung (ITeG) der Universität Kassel stattfand, und deren Dokumentation unter dem Titel „Privatheit, Öffentlichkeit und demokratische Willensbildung in Zeiten von Big Data“ erschienen ist. Das von Philipp Richter herausgegebene Werk beleuchtet die Auswirkungen des Phänomens Big Data auf die demokratische Willensbildung und deren Funktionsbedingungen im grundgesetzlichen Verständnis. Die Verbindung der Themenfelder wird von Alexander Roßnagel im Vorwort des Herausgebers zutreffend beschrieben. Demokratische Willensbildung muss frei von Zwang, Einschüchterung und Bestechung sein (S. 5). Diese Grundlage gerate durch die neuen technischen Möglichkeiten der Big-Data-Analyse unter ernsthafte Herausforderungen, insbesondere wenn es darum gehe, mit Big Data „auf dem Mikro-Level unbekannte Eigenschaften von bestimmten Personen besser und schneller zu erkennen und auszunutzen: Welcher Wähler ist noch unentschlossen und mit welchen Argumenten beeinflussbar? Wer kann welcher Werbebotschaft nicht widerstehen?“ (S. 6 f.). Vor diesem Hintergrund erhebt das Buch den Anspruch, zu ergründen, inwieweit das normative Konzept von Demokratie in Frage gestellt wird und wie darauf (gegebenenfalls) zu reagieren wäre (S. 7). Die vorschnelle pauschale Kritik von Big-Data-Analysen im Kontext demokratischer Willensbildung würde vor dem Hintergrund, dass es seit jeher ein schmaler Grat zwischen „argumentativer Überzeugung“ und „illegitimer Beeinflussung“ ist (S. 5), nicht überzeugen – sie findet sich in den Beiträgen auch nicht; die sachliche Beschreibung von Technologien, Auswirkungen, Chancen und Gefährdungslagen ist prägend.

Mehrwert des Sammelbandes ist die Zusammenführung verschiedener Disziplinen – die so oft angemahnte Interdisziplinarität, die gerade bei technischen Erscheinungen, die weit in die Gesellschaft hineinwirken und dort mit nachhaltigen Veränderungen verbunden sind, auf die dann Recht und Rechtswissenschaft reagieren, gelebt werden muss. Eine isolierte Betrachtung aus Perspektive des (Verfassungs-)Rechts würde die Debatte verengen und andere als rechtliche Bewältigungsstrategien ohne Grund verdrängen.

Nach einer Darstellung der technischen Grundlagen von Big Data im Beitrag von Hervais Simo (S.13 ff.), folgt zunächst eine verfassungsrechtliche Einbettung auf relativ abstrakter Ebene. Dieser Beitrag von Philipp Richter steht zu Recht am Anfang der Beiträge, gibt er doch zunächst einen guten Überblick über das demokratische Prinzip des Grundgesetzes (S. 46-52), die Chancen (S. 52 f.) und Risiken von Big Data (S. 53-63) für das bisher gelebte und allseits akzeptierte Konzept demokratischer Willensbildung grundgesetzlicher Ausprägung. Die folgenden Beiträge können inhaltlich auf dieser Grundlage aufbauen und betrachten jeweils einen konkreten Anwendungskontext: Der Beitrag von Stephan Sädtler behandelt technisch-gestützte Partizipationstools, die auf der Cloud-Technologie aufbauen und daher auch als „BürgerCloud“ bezeichnet werden sollen (S. 69 ff.), während Maxi Nebel dem Schutz politischer Meinung in sozialen Netzwerken nachgeht (S. 89 ff.). Angesichts aktueller Entwicklungen dürfte es sich dabei um die weitaus relevantere Frage handeln, da die mit einer Zunahme der Online-Partizipation verbundenen Erwartungen sich kaum bewahrheitet haben dürften. Der Beitrag zu sozialen Netzwerken befasst sich primär mit datenschutzrechtlichen Aspekten; mittlerweile wäre eine weitere Facette zu ergänzen: nämlich der Umgang sozialer Netzwerke und staatlicher Stellen mit sog. „Hasskommentaren“. Tatsächlich ist derzeit weniger ein Trend zur vielfach – zu Recht – als Gefahr für die demokratischen Willensbildung beschriebenen „Selbstzensur“ (S. 99 f.) erkennbar, sondern eine zunehmende Bereitschaft, auch radikale Botschaften im Netz zu verbreiten. Der für „politische“ Big-Data-Analysen zur Verfügung stehende Datenbestand dürfte dadurch täglich wachsen – die Konsequenzen sind derzeit nur bedingt absehbar und können von den Beiträgen des Buches (was nicht zum Vorwurf gemacht werden kann) nur ansatzweise analysiert werden.

Da Recht immer auf den Realbedingungen aufbaut, die es vorfindet, ist die Ergänzung um weitere Perspektiven sinnvoll: Erst das Verständnis darüber, „was eine politische Meinung ist“ (S. 114 f.), ob die „politische Meinung heutzutage noch privat ist“ (S. 118-122) und „warum politische Meinungsäußerung besonders schutzwürdig ist“ (S. 122 f.) – bspw. aus Sicht der Medienpsychologie – rundet das Bild ab. Diesen Fragen geht der Beitrag von Tobias Dienlein nach.

Kommt das Recht an seine Grenzen – in technologischen Kontexten durchaus eine zunehmende Erscheinung, insbesondere wenn man das nationale Recht fokussiert –, sind es vielfach technische Maßnahmen, die die erkannte Schutzwürdigkeit bestimmter Handlungsweisen und/oder Daten absichern können. Rüdiger Grimm beschreibt derartige technische Schutzkonzepte im Sinne einer Verschlüsselung, bspw. von Kommunikationsdaten (S. 127 ff.). Zutreffend weist er aber darauf hin, dass dies zwar die ungewollte Kenntnisnahme hindert, nicht aber die freiwillige Offenbarung gegenüber Diensteanbietern, die diese unter Umständen später weitergeben. Daraus zu folgern, dass es eines „ethischen Umdenkens in der ganzen Welt“ dergestalt bedürfte, dass personenbezogene Daten „schmutzige Ware“ seien (S. 148), erscheint jedoch zu weitgehend. Die grundsätzliche Bedeutung von individuellen Sicherungsmechanismen belegt anschaulich der Beitrag von Jessica Heesen und Tobias Matzner (S. 151 ff.). Dieser beleuchtet, ob sich durch die technischen Möglichkeiten und die Internetkommunikation die klassische Differenzierung zwischen öffentlich und privat, zwischen politisch und privat auflöst. Verbunden damit ist die Frage, der vertieft nachzugehen wäre, ob sich die auf diesen Differenzierungen aufbauenden unterschiedlichen (rechtlichen) Schutzkonzepte noch aufrechthalten lassen.

Abschließend geht Carsten Ochs Big Data aus soziologischer Perspektive nach. Erhellend ist vor allem die Erkenntnis, dass einige der mit alldem (Big Data) in Verbindung stehenden Privatheitsprobleme länger und bereits aus anderen Zusammenhängen bekannt sind und lediglich „durch die Ausweitung der Datenlandschaft radikalisiert werden“ (S. 177): das Definitionsproblem (Rollenbildung in einer zunehmend öffentlichen Welt mit wenig Rückzugsräumen), der Identitätsterror der eigenen Biografie (die permanente Konfrontation mit Vergangenem), das Katego­risierungsproblem (Bildung und Einordnung von Individuen in klassifizierte Personengruppen verbunden mit bestimmten Vor- oder Nachteilen) und der vorauseilende Gehorsam (Big Data als das digitale Panoptikum).

Tagung und Tagungsband ist es gelungen, ausgewiesene Experten zusammenzubringen. Die Beiträge geben einen instruktiven Einblick in die Möglichkeiten und Risiken von Big Data für die Demokratie. Wie für den wissenschaftlichen Diskurs um eine innovative, sich gerade etablierende Technologie üblich, können die Über­legungen der Autoren keine abschließenden Antworten formulieren. Sie sind viel­mehr als Diskussionsansatz zur Neujustierung einer rechtlichen Ordnung ge­dacht, an deren Ende vielleicht auch nur die Ermittlung einiger weniger, dem demokra­tischen Prinzip im Kern zuzuordnender Konstanten stehen mag, die ih­ren Absolutheitsanspruch auch im digitalen Raum und bei der Nutzung von Big-Data-Anwendungen behalten müssen. Vor diesem Hintergrund ist sich den Wünschen des Reihenherausgebers Alexander Roßnagel anzuschließen, der die Hoffnung äußert, „dass die Entscheidungsträger in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft die Erkenntnisse […] zur Kenntnis nehmen und ihre Anregungen zu einer demokratie- und freiheitsverträglichen Gestaltung von Big-Data-Analysen berücksichtigen“ (S. 7).

Richter (Hrsg.), Privatheit, Öffentlichkeit und demokratische Willensbildung in Zeiten von Big Data; Band 32 der Reihe „Der Elektronische Rechtsverkehr“; Nomos 2015, 188 S., broschiert, ISBN 978-3-8487-2315-7, 49,00 €

Net-Dokument BayRVR2016021801; Titelfoto: (c) bogdanvija – Fotolia.com

Redaktionelle Anmerkung

Schulz_passDr. Sönke E. Schulz ist Berater bei der ÖPP Deutschland AG (Partnerschaften Deutschland) und freier Mitarbeiter am Lorenz-von-Stein-Institut für Verwaltungswissenschaften an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.