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Rezension: Kästle-Lamparter, Welt der Kommentare (Mohr Siebeck 2016)

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Rezension_Fotolia_91184109_S_copyright - passvon Prof. Dr. Josef Franz Lindner, Universität Augsburg

Ein wesentliches Arbeitsmaterial für den in Theorie und Praxis arbeitenden Juristen ist seit jeher der Kommentar. Es handelt sich dabei – neben dem Lehrbuch und dem Aufsatz – um eine heute nicht mehr hinwegzudenkende Kategorie juristischer Alltagsliteratur. Das Erfolgsmodell dieser Literaturgattung ist nicht nur an der Anzahl der Kommentare abzulesen, sondern vor allem auch daran, dass zu ein und demselben Rechtstext eine Fülle von parallelen Kommentaren existiert. So sind etwa zum Grundgesetz mittlerweile über 20 Kommentare zu verzeichnen, gleiches gilt für das BGB. Es gibt heute nahezu kein Gesetz, das in der Praxis von einer größeren Relevanz ist, ohne dass es dazu einen eigenen Kommentar gäbe. Durch die elektronischen Kommunikationsmedien werden zunehmend auch internet-gestützte Kommentarprodukte auf den Markt gebracht. Diametral zur Bedeutung und Fülle der juristischen Kommentare verhält es sich mit der rechtstheoretischen Reflexion dieser Literaturgattung.

Die diesbezügliche Lücke versucht eine Dissertation zu schließen, die an der Universität Münster entstanden ist und von Nils Jansen betreut worden ist. Die äußerst verdienstvolle Zielsetzung der Arbeit ist eine rechtstheoretische und rechtsgeschichtliche Betrachtung der Literaturgattung „Kommentar“. Eine wichtige Aussage über das Forschungsprogramm der Dissertation macht auch der Untertitel: „Struktur, Funktion und Stellenwert juristischer Kommentare in Geschichte und Gegenwart“. Dieses Unterfangen ist schon deswegen von besonderem Wert, als eine theoretische Betrachtung juristischer Kommentarliteratur dringend geboten ist: Denn das Kommentieren juristischer Texte besteht ja nicht nur im Sammeln von rechtsrelevanten Fakten, Literaturansichten („h.M.“) und Gerichtsentscheidungen, sondern vor allem auch darin, eigene Ansichten zu entwickeln und diese in den juristischen Diskurs einzubringen. Der Kommentar ist also nicht ein objektives Erläuterungsbuch, sondern immer auch ein von juristisch-subjektiven Meinungen und Wertungen des Kommentierenden geprägtes Arbeitsmaterial. Jedes Kommentarwerk ist daher auch mit einem gewissen Maß an kritischem Bewusstsein und dementsprechender Vorsicht zu verwenden.

Die Arbeit gliedert sich in vier Teile. Nach einer kurzen Einleitung bietet der Verfasser eine kurze, aber prägnante Geschichte des juristischen Kommentars in Europa unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung. Die Entwicklung des Kommentierens juristischer Texte von Rom über Byzanz bis hin in die Bundesrepublik Deutschland wird nachgezeichnet. Vom Kommentierungsverbot Justinians für seine Digesten bis hin zum World Wide Web wird ein weiter geschichtlicher Bogen gespannt, der gleichzeitig informativ und gut lesbar ist. In einem zweiten Teil wird das Phänomen „Kommentierung“ nochmals in historischer Perspektive beleuchtet. Unter der Überschrift „Die Neuentdeckung des juristischen Kommentars durch die Glossatoren“ wird insbesondere die juristische Kommentarliteratur im Mittelalter thematisiert. Behandelt werden im Einzelnen die Glossierung des Corpus Iuris Civilis, des Decretum Gratiani und des Sachsenspiegels.

Im dritten Teil wird der spezielle Aufstieg des Gesetzeskommentars in Deutschland nachgezeichnet. Hierbei steht die Kommentierung im Strafrecht, im Handelsrecht und im BGB naturgemäß im Vordergrund, weniger das öffentliche Recht. Geboten werden eine interessante Darstellung der Entwicklung der wichtigsten juristischen Kommentare und deren Bedeutung in Wissenschaft und Praxis.

Der vierte Teil ist der eigentlichen rechtstheoretischen Betrachtung der Kommentarliteratur gewidmet. Der Verfasser unternimmt es hier, die „Struktur des Kommentars“ im Versuch einer rechtstheoretischen „Phänomenologie“ zu erfassen. Erläutert werden die verschiedenen Methoden und Techniken der Kommentierung, die Arten und Form der Darstellung. Der interessanteste Teil ist den Funktionen des Kommentars gewidmet. Der Verfasser arbeitet hier zehn verschiedene Funktionen heraus, die Kommentare erfüllen. Im Einzelnen erfülle der Kommentar die Funktion als „Erläuterungsbuch“, als „Wissensspeicher“, als „Wissensfilter“, als „Wissensorganisator“, als „Wissensgestalter“, als „Feinmechaniker“, als „Brückenbauer“, als „Stabilisator“, als „Kritiker“, als „Erneuerer“. Damit sind die möglichen Funktionen juristischer Kommentare sicher weitgehend, wenn auch nicht erschöpfend beschrieben. Die Funktionen dürften sich vielfach überschneiden, auch kann und wird nicht jeder Kommentar in jeder Aufmachung alle Funktionen erfüllen. Etwas zu kurz kommt nach Ansicht des Rezensenten die kritische Hinterfragung der einzelnen Funktionen. Insbesondere die Funktion des Kommentars als „Erneuerer“ ist nicht ohne wissenschaftstheoretische Problematik. Denn über diese Funktionen – freilich auch über manch andere Funktion – können relativ ungefiltert persönliche Überzeugungen des Kommentators (seien sie politischer, weltanschaulicher oder sonstiger Natur) Eingang in die Kommentierung und damit in den juristischen Diskurs finden. Da Kommentarliteratur immer auch auf Relevanz in Anwaltsschriftsätzen und Gerichtsentscheidungen zielt (welcher Kommentator sieht sich nicht gerne selbst in einer Gerichtsentscheidung zitiert?), liegt hier doch auch ein Einfallstor für außerrechtliche Richtigkeitsmaßstäbe, also für das Metaphysik-Problem der Rechtswissenschaft. Zwar spricht der Verfasser dieses Problem durchaus an, wenn er etwa auf S. 323 schreibt: „Aus Sicht des Rechtsanwenders birgt die Funktion des Kommentars als Wissensgestalter damit das Risiko missbräuchlicher Meinungsmanipulationen, gerade weil Kommentare im Spektrum zwischen Dokumentation und dezidierter Stellungnahme unterschiedliche Schwerpunkte setzen“ (man denke etwa an die mittlerweile wieder verblassten „Alternativ“-Kommentare). Dieses Problem wird allerdings nicht näher vertieft, was sicherlich auch nicht Aufgabe einer Dissertation ist. Es stellt sich jedoch die für die Rechtstheorie interessante Forschungsfrage, wie mit dem Phänomen „missbräuchlicher Meinungsmanipulation“ umzugehen ist. Hierzu bedürfte es sowohl analytischer als auch kritischer Überlegungen: Analytischer insofern, als es um Instrumente geht, manipulative („metaphysische“) Kommentierungen zu dechiffrieren, kritischer insofern, als es um Strategien geht, solche Entwicklungen wenn nicht zu verhindern, so doch einigermaßen zu kanalisieren. Ein Instrument dafür könnte jedenfalls das Gebot einer Rollenehrlichkeit und Rollentransparenz des Kommentators sein.

Die anzuzeigende Dissertation verdient ein positives Gesamturteil. Es handelt sich um eine historisch informierte (und informierende), rechtstheoretisch reflektierte und gut dokumentierte Darstellung des Phänomens „juristischer Kommentar“. Weiterführend ist die Arbeit schon deswegen, weil sie viele Ansätze aufzeigt, an denen weiterer Forschungsbedarf besteht. Dies gilt auch für das breite Spektrum der öffentlich-rechtlichen Kommentare, die die vorliegende Arbeit, die ihren Schwerpunkt auf die zivilrechtlichen Kommentarwerken setzt, nicht näher behandelt. Fazit: Ein verdienstvolles, lesenswertes Buch!

David Kästle-Lamparter, Welt der Kommentare – Struktur, Funktion und Stellenwert juristischer Kommentare in Geschichte und Gegenwart. Mohr Siebeck 2016, XVIII, 416 Seiten, Leinen; Grundlagen der Rechtswissenschaft, Bd. 30. ISBN 978-3-16-154142-1, 94,00 €

Net-Dokument BayRVR2016082601; Titelfoto: (c) bogdanvija – Fotolia.com

Anmerkung der Redaktion

01_Prof. Lindner_passProf. Dr. Josef Franz Lindner ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Medizinrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Augsburg sowie geschäftsführender Direktor des Instituts für Bio-, Gesundheits- und Medizinrecht. Der Lehrstuhl widmet sich dem Öffentlichen Recht in der gesamten Breite, den philosophischen Grundlagen des Rechts sowie dem Bio-, Medizin- und Gesundheitsrecht.

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