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Der Griff nach dem Plebiszit – vorerst gescheitert (Anm. zu BayVerfGH v. 21.11.2016)

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abstimmung_volksbefragung_fotolia_36716960_s_copyright-pass2Anmerkung zur Entscheidung des BayVerfGH v. 21.11.2016 – Vf. 15-VIII-14 und Vf. 8-VIII-15

von Prof. Dr. Hermann K. Heußner, Hochschule Osnabrück

Der BayVerfG hat mit seiner Entscheidung vom 21.11.2016 eine Grundsatzentscheidung getroffen, die weit über Bayern hinaus Bedeutung hat. Danach dürfen Regierung und/ oder Parlament sog. „konsultative Volksbefragungen“ nur ansetzen, wenn dieses Instrument in der Verfassung vorgesehen ist. Die Regierungsmehrheit kann sich also nicht in Form von Plebisziten, d.h. „von oben“ ausgelöster Urnengänge, weitere Machtinstrumente zulegen.

1. Die Entscheidung des BayVerfGH erklärt Art. 88a des Bayerischen Landeswahlgesetzes (LWG) für verfassungswidrig und nichtig. Durch Art. 88a LWG wollte die CSU mit einfacher Parlamentsmehrheit konsultative Volksbefragungen im Bereich der Exekutive einführen. Diese sollten über Vorhaben mit landesweiter Bedeutung anberaumt werden, wenn Landtag und Staatsregierung dies übereinstimmend beschließen. Das Ergebnis wäre rechtlich nicht bindend gewesen.

2. Es ist umstritten, ob rechtlich nicht bindende Volksbefragungen ohne Verfassungsänderung zulässig sind.[1] Die Entscheidung vom 21.11.2016 gibt darauf erstmals eine gerichtliche Antwort. Das BVerfG hatte 1958 lediglich festgestellt, dass das Volk im Rahmen konsultativer Volksbefragungen als Staatsorgan an der Staatswillensbildung mitwirkt.[2] Es hatte jedoch die Frage dahinstehen lassen, ob zur Einführung eine Verfassungsänderung notwendig ist (vgl. BayVerfGH v. 21.11.2016, Rn. 94-98)[3].

3. Ob einfachgesetzlich eingeführte Volksbefragungen gegen einen Vorbehalt der Verfassung verstoßen, lässt der BayVerfGH offen (Rn. 100). Er stellt für Bayern aber fest, dass die Formen der Staatswillensbildung des Volkes abschließend in Art. 7 Abs. 2 BV aufgeführt sind (LS 2, Rn. 99-112). Dass für die Staatsebene neben Wahlen lediglich Volksbegehren und Volksentscheid in Art. 7 Abs. BV genannt und in Art. 72 ff. BV näher ausgestaltet sind, indiziere, dass die BV auch nur diese Instrumente zulässt (Rn. 102). Durch Landtag und Staatsregierung angesetzte Volksbefragungen im Bereich der Exekutive seien kein boßes Minus gegenüber der zulässigen Volksgesetzgebung. Sie sind ein Aliud (Rn. 104). Dies überzeugt vollständig. Denn die Volksgesetzgebung wird aus dem Volk heraus und nicht vom Parlament bzw. der Staatsregierung initiiert. Und Volksgesetzgebung bezieht sich nicht auf die exekutive, sondern auf die legislative Staatsfunktion.

4. Der BayVerfGH betont, dass die faktischen Auswirkungen zu überprüfender Normen von maßgeblicher Bedeutung für die verfassungsrechtliche Beurteilung sind (Rn. 106 ff., 111). Deshalb kann der Einwand der Befürworter einfachgesetzlicher Volksbefragungen, dass diese keine rechtliche Verbindlichkeit besäßen, nicht verfangen. Denn allein die Existenz dieses Instrumentes kann die Regierung und das Parlament so unter Druck setzen, dass sie gar nicht anders können, als eine Volksbefragung anzuberaumen (Rn. 107). Und das Ergebnis einer Befragung können Parlament und Regierung nicht ignorieren. Vielmehr stehen sie unter enormem Druck, das Votum der Urnenmehrheit umzusetzen (Rn. 108). Folgt die Regierung dem Volksvotum, verbreitert sie ihre Legitimationsgrundlage zu Lasten des Parlaments und der Bedeutung der Landtagswahlen. Die Volksbefragung stellt damit einen massiven Eingriff in das fein austarierte bestehende staatsorganisationsrechtliche System dar (Rn. 109 f.). Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass dies verfassungsvergleichend, aktuell und paradigmatisch auch der Ausgang der britischen Volksbefragung über den Verbleib in der EU vom 23.06.2016 unter Beweis stellt. Rechtlich ist diese Volksbefragung unverbindlich. Faktisch-politisch hat sie jedoch stark dezisiven Charakter.

5. Ob Art. 88a LWG auch gegen Rechte der parlamentarischen Opposition gem. Art. 16a BV verstößt, musste der BayVerfGH nicht mehr abschließend klären (Rn. 114). Dennoch hat er in einem Obiter Dictum ausgeführt, dass der Opposition keine Rechte genommen würden. Denn sie habe die Möglichkeit, ihren Standpunkt in den Ausschuss- und Plenardebatten einzubringen, die einem Landtagsbeschluss über eine konsultative Volksbefragung vorausgingen (Rn. 115). Diese Argumentation greift zu kurz. Denn die Volksbefragung führt zu einem „Arenenwechsel“. Die wesentliche Auseinandersetzung findet nicht mehr im Plenarsaal statt, sondern in der Öffentlichkeit im Vorfeld des Urnenganges. Dort hat die Regierungsmehrheit jedoch das Antragsmonopol, sie allein bestimmt Inhalt und Zeitpunkt der Fragestellung. Die parlamentarischen Oppositionsrechte werden entwertet und schrumpfen zu „second order-Rechten“.[4]

6. Um Art. 88a LWG für verfassungswidrig zu erklären, hätte der BayVerfGH nicht mehr auf die Frage eingehen müssen, ob konsultative Volksbefragungen durch eine Verfassungsänderung eingeführt werden können und ob sie gegen die Ewigkeitsgarantie gem. Art. 75 Abs. 1 Satz 2 BV verstoßen würden. Er hat jedoch Stellung bezogen. Dies ist zu begrüßen, um Rechtsklarheit zu schaffen. Denn Fragen der Ewigkeitsgarantie haben schon häufiger in der Verfassungsrechtsprechung zu Volksabstimmungen eine entscheidende Rolle gespielt.[5]

7. Nach Ansicht des BayVerfG sind Verfassungsänderungen unzulässig, welche die Funktionsfähigkeit der für die repräsentative Demokratie unverzichtbaren Organe maßgeblich beeinträchtigen (Rn. 121). Diese Schwelle würde durch eine konsultative Volksbefragung jedoch nicht überschritten (Rn. 122). Dies gelte auch für etwaige finanzielle Auswirkungen. Denn würde die Haushaltsgesetzgebung ausgenommen, kämen lediglich mittelbare finanzielle Folgen in Betracht, denen „gegebenenfalls durch die Art und Weise, wie der Volkswille letztlich umgesetzt wird, Rechnung getragen werden kann.“ (Rn. 124).

8. In dieser Begründung kommt die restriktive Haltung des BayVerfGH zu finanzwirksamer Volksgesetzgebung zum Ausdruck. Danach soll allein das Parlament zu gemeinwohlorientierter Finanzplanung in der Lage sein (Rn. 123). Dem kann in dieser Rigorosität nicht zugestimmt werden. Denn eine Mehrheit im Volk ist in der Regel nur zu erreichen, wenn auch die Initiatoren eines Volksbegehrens unterschiedliche Interessen und einen Interessenausgleich im Blick haben. Wird für Volksbegehren, die wesentliche Auswirkungen auf den Haushalt haben, gleichzeitig ein Deckungsvorschlag verlangt, der mit zur Abstimmung zu stellen ist, ist deshalb die Funktionsfähigkeit des Parlaments auch bei stark finanzwirksamen Initiativen nicht grundsätzlich beeinträchtigt.[6]

9. Der Griff der CSU nach dem Plebiszit ist nur vorerst gescheitert. Denn die CSU erwägt nunmehr, über eine parlamentarische Verfassungsänderung oder mittels eines verfassungsändernden Volksbegehrens das gewünschte Machtinstrument in Bayern zu erlangen.[7] Die Hürden sind freilich hoch. Denn eine parlamentarische Verfassungsänderung verlangt zunächst eine Zweidrittelmehrheit im Landtag. Um diese zu erreichen, müsste die CSU bereit sein, das Befragungsrecht auch der Opposition einzuräumen. Außerdem müsste das Volk im anschließenden Verfassungsreferendum davon überzeugt werden, dass es in seinem Interesse liegen soll, dass die Regierung bzw. die Opposition (noch) mehr Machtinstrumente in die Hand bekommen. Dasselbe gilt für ein Volksbegehren mit anschließendem Volksentscheid.

10. Verfassungsrechtspolitisch ist von konsultativen Volksbefragungen „von oben“ dringend abzuraten. Sie sind ein schädliches Machtinstrument. Dies gilt u.a. deshalb, weil sie zu Verantwortungsdiffusion und Verantwortungsauflösung führen: Bei negativen Folgen kann die Regierung auf das Volk und kann das Volk auf die Regierung verweisen. Keiner trägt die Verantwortung. Und die Initiatoren aus Regierung und Parlament können Zeitpunkt und Inhalt der Fragestellung einseitig bestimmen. Gruppen aus dem Volk sind demgegenüber strukturell benachteiligt.[8] Meint man es ernst, die Bürgerinnen und Bürger stärker zu beteiligen, sind die bestehenden Instrumente des Volksbegehrens und Volksentscheids zu verbessern.

11. Die Entscheidung hat über Bayern hinaus Bedeutung. Denn das Gericht hat damit Bestrebungen, die es im Bund und in den Ländern in verschiedenen Parteien gibt, mit einfacher Mehrheit nach Gutdünken das Volk machtpolitisch zu instrumentalisieren, einen Riegel vorgeschoben. Die Diskussionen um die Olympiavolksbefragungen in Berlin und Hamburg haben erst kürzlich gezeigt, wie verführerisch ein solches Instrument sein kann. Der Vorstellung „die Regierung darf doch wohl noch ihr Volk befragen“ ist der Boden entzogen. Zwar gilt die Entscheidung formal nur für Bayern. Die vom Gericht herangezogenen Argumente dürften jedoch für alle Landesverfassungen und auch den Bund durchgreifen.[9]

12. Dies ist umso wichtiger, als der auch in Deutschland erstarkende Rechtspopulismus eine besondere bonapartistische Gefahr darstellen könnte, mit Hilfe von Plebisziten die Bürgerinnen und Bürger „von oben“ vor den jeweiligen demagogischen Karren zu spannen. Und auch die CSU hat mit ihrer neuen Programmforderung, für Volksabstimmungen auf Bundesebene eintreten zu wollen, nicht hinreichend klar Stellung bezogen, was sie damit meint. Lediglich für Verfassungsänderungen werden Volksbegehren und Volksentscheid ausdrücklich gefordert. Das von ihr in Bayern angestrebte Machtinstrument des Plebiszits schließt sie keineswegs aus.[10]

Net-Dokument: BayRVR2016112901 (über die ohne Leerzeichen einzugebende Net-Dokumenten-Nummer ist der Beitrag über die BayRVR-interne Suche und i.d.R. auch über Google jederzeit eindeutig identifizierbar und direkt aufrufbar)

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Redaktionelle Anmerkung

Prof. Dr. Hermann K. Heußnerheussner_hermann_pass ist Inhaber der Professur für Öffentliches Recht und Recht der sozialen Arbeit an der Hochschule Osnabrück und hat im Rahmen der Expertenanhörung im Bayerischen Landtag zur Änderung des LWG am 16.10.2014 Stellung bezogen.

 


[1] Vgl. Nachweise bei Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 20 (Demokratie) Rn. 107.

[2] BVerfGE 8, 104, 114 f.

[3] Die Entscheidung vom 21.11.2016 wird nachfolgend lediglich mit LS bzw. Rn. angegeben.

[4] Heußner/Pautsch, NJW 2015, 1228.

[5] Vgl. aktuell volksgesetzgebungseinschränkendes Urteil des HVerfG v. 13.10.2016, Az. HVerfG 2/16, LS 4 bis 8, S. 38 ff. Zu ähnlicher älterer Rspr. vgl. kritisch jedoch Wittreck, in: Heußner/Jung, Mehr direkte Demokratie wagen, 2. Aufl. 2009, S. 403 ff., 406 ff., und Dreier/Wittreck, Jahrbuch für direkte Demokratie 2009 (2010), S. 24 ff.

[6] Vgl. näher zu paralleler Fragestellung im Saarland Heußner, Stellungnahme zu Gesetzentwürfen zur Änderung der Verfassung des Saarlandes zur Stärkung der Bürgerbeteiligung (Drs. 15/140) und zum Gesetzentwurf zur Änderung des Volksabstimmungsrechts (Drs. 15/302), Gemeinsame Anhörung des Ausschusses für Justiz Verfassungs- und Rechtsfragen sowie Wahlprüfung und des Ausschusses für Inneres und Sport am 07.03.2013 im Landtag des Saarlandes, S. 13-17.

[7] Vgl. Süddeutsche Zeitung v. 23.11.2016, bundesweite Ausgabe, S. 30.

[8] Vgl. näher Heußner/Pautsch, NVwZ-Extra 10/2014, 1, 6-8.

[9] Im Hinblick auf Berlin, Hamburg und den Bund vgl. näher Heußner/Pautsch, NJW 2015, 1225 ff.; dies., NVwZ-Extra 10/2014, 1 ff.

[10] Vgl. Ziff. I.3.Pkt. 4 Grundsatzprogramm der CSU v. 05.11.2016, S. 32, http://csu-grundsatzprogramm.de/wp-content/uploads/CSU_Grundsatzprogramm.pdf (27.11.2016).