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Volksbefragung als direktdemokratische Beteiligungsform – der VerfGH zu Art. 88a LWG

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abstimmung_volksbefragung_fotolia_44637255_s_copyright-passAnmerkung zur Entscheidung des VerfGH v. 21.11.2016 – Vf. 15-VIII-14 und Vf. 8-VIII-15

von Priv.-Doz. Dr.iur. Dipl.sc.pol.Univ. Thomas Holzner, Regierungsrat

Ob nun Stuttgart 21, der Bau einer weiteren Startbahn für den Franz-Joseph-Strauß-Flughafen bei München oder die Direktwahl des Ministerpräsidenten in Bayern: Seit Jahren steht die Frage einer verstärkten Bürgerbeteiligung, die über diejenige, die durch die periodischen Wahlen zu den Repräsentativorganen vermittelt wird, hinausgeht, im Fokus der politischen und auch verfassungsrechtlichen Diskussion. Dabei geht es nicht nur um die Einführung oder Erweiterung von Volksbegehren und -entscheiden auf Bundesebene, sondern auch um andere Formen der Volksbeteiligung. Im Mittelpunkt steht dabei die Teilhabe an Entscheidungen der Exekutive vor allem bei Infrastrukturprojekten auf Landesebene.

Zu diesem Zweck brachte die Bayerische Staatsregierung am 29.04.2014 einen Gesetzentwurf zur Änderung des Landeswahlgesetzes (Einführung von Volksbefragungen) im Bayerischen Landtag ein.[1] Hiernach sollte mit Art. 88a LWG einfachgesetzlich die Möglichkeit einer unverbindlichen Volksbefragung eingefügt werden, wonach mit Ausnahme von Gesetzgebungsvorhaben über Vorhaben des Staates mit landesweiter Bedeutung eine Volksbefragung verpflichtend ist, sofern Landtag und Staatsregierung dies übereinstimmend beschließen. Eine derartige landesweite Bedeutung besteht nach der Gesetzesbegründung bei Vorhaben zur Herstellung und Sicherung einer für Bayern insgesamt relevanten Infrastruktur.[2] Der Entwurf wurde nach der Ersten Lesung am 07.05.2014 an den federführenden Ausschuss für Verfassung, Recht und Parlamentsfragen überwiesen,[3] der eine Beschlussempfehlung abgab.[4] Am 11.02.2015 wurde der Entwurf vom Landtagsplenum in Zweiter Lesung beraten und anschließend beschlossen.[5] Das Gesetz wurde am 23.02.2015 vom Bayerischen Ministerpräsidenten ausgefertigt und im GVBl bekannt gemacht.[6]

Jedoch regte sich schon während des Gesetzgebungsverfahrens Widerstand insbesondere der Oppositionsparteien gegen eine derartige einfachgesetzliche Verankerung von Volksbefragungen, der in einem vor dem VerfGH angestrengten vorbeugenden Normenkontrollverfahren gipfelte.

Der VerfGH entschied über diese Meinungsverschiedenheiten am 21.11.2016 und erklärte Art. 88a LWG als mit der Bayerischen Verfassung, insbesondere mit Art. 7 Abs. 2 BV unvereinbar und damit nichtig.[7]

Dabei stellt der VerfGH zuerst einmal klar, dass es sich bei einer Volksbefragung um einen Akt der Staatswillensbildung handelt, und zwar unabhängig davon, dass diese nach Art. 88a LWG lediglich konsultativ ausgestaltet ist.[8] Dies ergibt sich bereits daraus, dass der Handlungsspielraum der zuständigen Organe wenn schon nicht rechtlich so doch zumindest faktisch eingeschränkt wird. Denn die bloße Möglichkeit einer solchen Volksbefragung weckt bereits die Erwartungshaltung im Volk, dass eine solche auch durchgeführt wird, wodurch der politische Ermessensspielraum der Staatsorgane, zu bestimmen, ob eine bestimmte Thematik zur Befragung gestellt wird, begrenzt wird und auch eine Auswirkung auf die Ausübung von bestimmten Kontrollrechten und der Budgetverantwortung des Landtags nicht ausgeschlossen ist.[9] Zum anderen übt eine einmal erfolgte Volksbefragung faktischen Druck auf die Staatsorgane aus, diesen festgestellten Volkswillen auch umzusetzen, da eine Befragung, über deren Ergebnis man sich im Anschluss hinwegsetzt,[10] das Instrument der Befragung selbst in Zweifel ziehen und Politikverdrossenheit weiteren Vorschub leisten würde. Bei der Volksbefragung handelt es sich daher richtigerweise um ein Instrument, an der Staatswillensbildung mitzuwirken.

Die Möglichkeiten, an der Staatswillensbildung mitzuwirken, sind jedoch in Art. 7 Abs. 2 BV abschließend geregelt, so dass diese – zumindest einfachgesetzlich – nicht erweitert werden können.[11]

So gibt die Bayerische Verfassung in Art. 2 Abs. 1, Art. 4 BV vor, dass der Freistaat ein Volksstaat ist, mithin das Volk Träger der Staatsgewalt ist. Das Demokratieprinzip zählt damit zu den elementaren Grundsätzen der Bayerischen Verfassung. Keine näheren Aussagen enthalten die Normen dagegen über die Ausgestaltung dieser Demokratie, ob also eine direkte oder repräsentative Demokratieform bestehen muss. Vielmehr nehmen die Normen durch die Auflistung von Wahlen und Abstimmungen beide Formen der Demokratie in Bezug.

Dennoch ist die Demokratie der Bayerischen Verfassung als repräsentative Demokratie konzipiert, die nur punktuell durch direktdemokratische Elemente ergänzt wird,[12] wenn diesen auch eine hohe Wertschätzung zu Teil wird.

Dieses austarierte Verhältnis zwischen repräsentativer Demokratie und direktdemokratischen Elementen würde durch die Einführung einer Bürgerbefragung zu Lasten der ersteren verschoben und so das von der Bayerischen Verfassung vorgegebene Kräfteverhältnis zwischen den Staatsorganen nachhaltig beeinflussen.[13] So würde das Volk durch die Befragung und deren faktische Wirkungen in erhöhtem Maße an der Willensbildung beteiligt, wodurch das Element der direkten Demokratie gestärkt würde. Gleichzeitig würde in demselben Maße jedoch die Bedeutung der alle fünf Jahre stattfindenden Wahlen zum Repräsentativorgan des Landtags an Bedeutung verlieren. Da eine solche Bedeutungseinbuße einer verfassungsmäßig vorgegebenen Volksbeteiligung nicht einfachgesetzlich abgeschwächt werden kann, bedarf die Volksbefragung einer verfassungsrechtlichen Verankerung.[14]

Da eine solche Verfassungsänderung jedoch nicht erfolgte und Art. 88a LWG nur einfachgesetzlichen Charakter aufweist, hat ihn der VerfGH zu Recht als mit Art. 7 Abs. 2 BV unvereinbar und damit nichtig erklärt.

Die Einführung einer Volksbefragung im Wege einer Verfassungsänderung würde nach Ansicht des VerfGH auch nicht an Art. 75 Abs. 1 Satz 2 BV scheitern.[15] Dabei ist dem VerfGH zuzugeben, dass die BV trotz der grundsätzlichen Ausrichtung auf eine repräsentative Demokratie den direktdemokratischen Elementen, die in einzelnen Normen wie Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 4, Art. 5 Abs. 1, Art. 7 Abs. 2, Art. 18 Abs. 3 BV zum Ausdruck kommen und in Art. 72 Abs. 2 BV in der Gleichstellung der Volksgesetzgebung mit der parlamentarischen Gesetzgebung gipfeln,[16] eine hohe Wertschätzung beimisst. Vor diesem Hintergrund würde eine Verfassungsänderung mit dem Inhalt einer Volksbefragung als Ausdruck direkter Demokratie nicht gegen Art. 75 Abs. 1 Satz 2 BV verstoßen.

Gleichzeitig will die Bayerische Verfassung jedoch eine funktionierende Demokratie und die Funktionsfähigkeit der demokratisch legitimierten Repräsentativorgane gewährleisten, die „für die Verwirklichung freiheitlich-rechtsstaatlicher Demokratie unverzichtbar sind“.[17] Insbesondere das Parlament darf daher in seiner Funktionsfähigkeit nicht durch Änderungen des von der Verfassung vorgesehenen Systems, die das Gleichgewicht beeinträchtigen, eingeschränkt oder gefährdet werden.[18] Dies zeigt sich in den hohen Hürden von Volksbegehren[19] sowie der zentralen Stellung des Landtags,[20] wie sie sich nicht nur aus der systematischen Stellung der ihn betreffenden Regelungen in der BV, sondern auch durch dessen verfassungsrechtliche Ausgestaltung ergibt.[21] Vor diesem Hintergrund ist insbesondere mit Blick auf die Ausführungen des VerfGH zur Beeinträchtigung der repräsentativen Elemente der Demokratie durch eine Volksbefragung zweifelhaft, ob eine solche nicht das Kräfteverhältnis in einer von Art. 75 Abs. 1 Satz 2 BV gehinderten Weise verlagert. Der VerfGH verneint dies jedoch.[22]

Der VerfGH versperrt damit zwar den von der Staatsregierung gewählten Weg über eine einfachgesetzliche Einführung einer Volksbefragung, hält dagegen den über eine Verfassungsänderung offen. So bleibt abzuwarten, ob dieser durch die Staatsregierung beschritten wird.

Net-Dokument: BayRVR2016120601 (über die ohne Leerzeichen einzugebende Net-Dokumenten-Nummer ist der Beitrag über die BayRVR-interne Suche und i.d.R. auch über Google jederzeit eindeutig identifizierbar und direkt aufrufbar)

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Anmerkung der Redaktion

Holzner_ThomasDr.iur. Dipl.sc.pol.Univ. Thomas Holzner ist Privatdozent und Regierungsrat am Bayerischen Landeskriminalamt und besitzt die venia legendi für Öffentliches Recht, Sozialrecht sowie Verfassungs- und Rechtsgeschichte.


[1] LT-Drs. 17/1745.

[2] LT-Drs. 17/1745 S. 5.

[3] Plenarprotokoll 17/16 S. 948/954 (vgl. Vorgangsmappe des Landtags, S. 6)

[4] LT-Drs. 17/5145.

[5] Plenarprotokoll 17/37 S. 2906 ff. (vgl. Vorgangsmappe des Landtags, S. 44 ff.)

[6] GVBl. 2/2015 v. 27.02.2015, S. 18 f. Zum Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens nebst Stellungnahmen insgesamt vgl. hier.

[7] VerfGH, Entsch. v. 21.11.2016, Vf. 15-VIII-14 u.a.

[8] VerfGH, Entsch. v. 21.11.2016, Vf. 15-VIII-14 u.a., Ls. 1.

[9] VerfGH, Entsch. v. 21.11.2016, Vf. 15-VIII-14 u.a., Rn. 107.

[10] VerfGH, Entsch. v. 21.11.2016, Vf. 15-VIII-14 u.a., Rn. 108.

[11] VerfGH, Entsch. v. 21.11.2016, Vf. 15-VIII-14 u.a., Ls. 2.

[12] VerfGH 29, 244 (264 f.).

[13] VerfGH, Entsch. v. 21.11.2016, Vf. 15-VIII-14 u.a., Rn. 110 ff.

[14] VerfGH, Entsch. v. 21.11.2016, Vf. 15-VIII-14 u.a., Rn. 110.

[15] VerfGH, Entsch. v. 21.11.2016, Vf. 15-VIII-14 u.a., Rn. 116 ff.

[16] VerfGH 52, 104 (126) = BayVBl. 1999, 719 (722); 53, 42 (61) = BayVBl. 2000, 430 (431).

[17] VerfGH 53, 42 (63) = BayVBl. 2000, 430 (431).

[18] VerfGH 53, 42 (63) = BayVBl. 2000, 430 (431).

[19] So fordert Art. 74 Abs. 1 BV ein Quorum von 10% der stimmberechtigten Staatsbürger.

[20] VerfGH 18, 79 (84) = BayVBl. 1965, 378 (379). Holzner, Verfassung des Freistaates Bayern, 2013, 2. Abschnitt: Der Landtag, Rn. 3.

[21] Deshalb wird sie auch als „eine repräsentative Demokratie mit einigen Farbtönen unmittelbarer Demokratie“ bezeichnet, Schmidt, Staatsgründung und Verfassungsgebung in Bayern, Bd. 1, 1997, S. 267.

[22] VerfGH, Entsch. v. 21.11.2016, Vf. 15-VIII-14 u.a., Rn. 122.