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BayVerfGH: Teilnahme ausländischer Bürger der EU an Bürgerbegehren und Bürgerentscheid

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Gegenstand des Verfahrens sind gesetzliche Regelungen im Kommunalrecht, durch die ausländischen Bürgern der Europäischen Union das Recht zur Teilnahme an kommunalen Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden eingeräumt wird:

1. der Art. 15 Abs. 2, Art. 18 a der Gemeindeordnung für den Freistaat Bayern (Gemeindeordnung – GO) i. V. m. Art. 1 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 des Gesetzes über die Wahl der Gemeinderäte, der Bürgermeister, der Kreistage und der Landräte (Gemeinde- und Landkreiswahlgesetz – GLKrWG),

2. der Art. 11 Abs. 2, Art. 12 a der Landkreisordnung für den Freistaat Bayern (Landkreisordnung – LKrO) i. V. m. Art. 1 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 GLKrWG.

Die Antragsteller rügen, die Mitwirkung ausländischer EU-Bürger an Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden verstoße gegen die Bayerische Verfassung. Aus Art. 7 Abs. 2, Art. 12 Abs. 3 BV ergebe sich klar und unmissverständlich, dass das Recht, durch Bürgerbegehren und Bürgerentscheide Staatsgewalt auszuüben, den Staatsbürgern, d. h. den deutschen Staatsangehörigen mit Wohnsitz in Bayern, vorbehalten sei. Dieses Recht werde in seiner Bedeutung und seinen Einflussmöglichkeiten massiv eingeschränkt, wenn es auch EU-Ausländern eingeräumt werde. Eine Überlagerung des bayerischen Verfassungsrechts durch höherrangiges Recht scheide insoweit aus, da das Grundgesetz und das EU-Recht den EU-Ausländern ausschließlich bei Kommunalwahlen, nicht aber bei kommunalen Abstimmungen ein Stimmrecht einräume.

Der Bayerische Landtag und die Bayerische Staatsregierung halten die Popularklage für unbegründet. Aufgrund europarechtlicher Vorgaben und einer entsprechenden Öffnung des Grundgesetzes durch Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG sei der Landesgesetzgeber ermächtigt und verpflichtet, den ausländischen Unionsbürgern das Recht zur Teilnahme an Gemeinde- und Landkreiswahlen zu gewähren. Er halte sich im Rahmen seines Gestaltungsspielraums, wenn er ausländische Unionsbürger auch im Hinblick auf Bürgerbegehren und Bürgerentscheide deutschen Staatsangehörigen gleichstelle. Sowohl Wahlen als auch Abstimmungen dienten der Herstellung demokratischer Legitimation. Würden ausländische Unionsbürger von Abstimmungen ausgeschlossen, hätten sie nur ein Wahlrecht „zweiter Klasse“. Jedenfalls sei ihre Einbeziehung nach Art. 12 Abs. 3 Satz 2 BV zulässig und sachgerecht.

Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hat die Popularklage am 12. Juni 2013 abgewiesen. Die landesgesetzlichen Regelungen, die ausländischen Bürgern der Europäischen Union das Recht zur Teilnahme an kommunalen Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden einräumen, sind verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

Zu der Entscheidung im Einzelnen

1. Kein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip (Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BV)

a) Keine Verletzung bundesrechtlicher Vorschriften

Ein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip (Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BV) unter dem Gesichtspunkt der Verletzung bundesrechtlicher Vorschriften, hier des Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG, ist nicht gegeben.

Nach Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG sind bei Wahlen in Kreisen und Gemeinden auch Personen, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaft besitzen, nach Maßgabe von Recht der Europäischen Gemeinschaft wahlberechtigt und wählbar. Diese 1992 in das Grundgesetz eingefügte Regelung dient der Anpassung der deutschen Verfassungsrechtslage an die durch den Vertrag von Maastricht geschaffene neue Unionsrechtslage, die eine Unionsbürgerschaft und in diesem Zusammenhang die Möglichkeit der Teilnahme von Unionsbürgern an den Kommunalwahlen ihres jeweiligen Wohnsitzes vorsieht.

Das maßgebliche Unionsrecht, auf das Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG Bezug nimmt, bilden derzeit Art. 20 Abs. 2 Satz 2 Buchst. b und Art. 22 Abs. 1 AEUV (PDF, 474 KB) sowie die Richtlinie 94/80/EG (PDF, 83 KB), die die Einzelheiten regelt. Hieraus ergibt sich der Grundsatz, dass EU-Ausländer das Kommunalwahlrecht unter denselben Bedingungen wie Inländer ausüben dürfen. Das Unionsrecht hat daher zur Folge, dass die traditionelle Verknüpfung von Staatsangehörigkeit und Wahlrecht teilweise aufgehoben wird. Es verlangt eine Gleichstellung aller Unionsbürger aber nur für Kommunalwahlen, nicht auch für kommunale Abstimmungen über Sachfragen.

Da Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG ausländischen Unionsbürgern eine Teilhabe auf kommunaler Ebene nur nach Maßgabe des Unionsrechts einräumt, bezieht sich auch die Regelung im Grundgesetz allein auf die Teilnahme an Kommunalwahlen.

Hieraus wird teilweise gefolgert, dass landesrechtliche Regelungen, die ausländischen Unionsbürgern auch die Teilnahme an kommunalen Sachentscheidungen eröffnen, wie dies bei den mit der Popularklage angegriffenen Regelungen der Fall ist, gegen das Grundgesetz verstoßen. Diese Ansicht stützt sich darauf, dass die Teilhabe an der Ausübung von Staatsgewalt die Eigenschaft als Deutscher voraussetzt. Als Ausnahmeregelung sei Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG eng auszulegen.

Das Fehlen einer Regelung zu den kommunalen Abstimmungen in Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG zwingt nach der Gegenmeinung nicht zu dem Schluss, dass die Teilnahme von EU-Ausländern an solchen Abstimmungen ausgeschlossen ist. Auch ohne ausdrückliche Einbeziehung in das Grundgesetz und das Unionsrecht bestehe auf der Landesebene ausreichender Spielraum, den ausländischen Unionsbürgern über das kommunale Wahlrecht hinaus ein Recht zur Teilnahme an kommunalen (Sach-)Abstimmungen einzuräumen. Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG sei erweiternd zu interpretieren.

Dieser Meinungsstand lässt durchaus gewichtige Gründe dafür erkennen, dass Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG der Mitwirkung von ausländischen Unionsbürgern an Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden nicht entgegensteht. Jedenfalls besteht kein offen zutage tretender Widerspruch der mit der Popularklage angegriffenen Regelungen zum Grundgesetz. Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BV kann daher nicht festgestellt werden.

b) Kein Widerspruch zu uniosnrechtlichen Vorschriften

Auch ein Widerspruch zu den Regelungen des Unionsrechts ist nicht erkennbar, da diese die Möglichkeit zur Teilnahme ausländischer Unionsbürger an kommunalen Abstimmungen weder verlangen noch verbieten.

2. Keine Verletzung der staatsbürgerlichen Rechte aus Art. 7 Abs. 2, Art. 12 Abs. 3 BV

Art. 7 Abs. 2, Art. 12 Abs. 3 BV sind ebenfalls nicht verletzt.

Nach Art. 7 Abs. 2 BV übt der Staatsbürger seine Rechte durch Teilnahme an Wahlen, Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden sowie Volksbegehren und Volksentscheiden aus. Ergänzt wird Art. 7 Abs. 2 BV durch Art. 12 Abs. 3 Satz 1 BV, der den Staatsbürgern das Recht einräumt, Angelegenheiten des eigenen Wirkungskreises der Gemeinden und Landkreise durch Bürgerbegehren und Bürgerentscheid zu regeln.

a) Staatsbürger sind zunächst alle in Bayern wohnhaften deutschen Staatsangehörigen. Die Auffassung, dass die Bayerische Verfassung allein eine Teilhabe deutscher Staatsangehöriger an der Staatsgewalt zulässt, bedarf jedoch angesichts der im konkreten Fall zugrunde liegenden Rechtsentwicklung der Modifikation. Eine Bewertung der Verfassungsänderung, mit der Bürgerbegehren und Bürgerentscheide verfassungsrechtlich verankert wurden, anhand ihrer Entstehungsgeschichte ergibt, dass Art. 7 Abs. 2 und Art. 12 Abs. 3 Satz 1 BV der Teilnahme ausländischer Unionsbürger an kommunalen Abstimmungen nicht entgegenstehen.

b) Kommunale Bürgerbegehren und Bürgerentscheide wurden durch Volksentscheid vom 1. Oktober 1995 eingeführt. Die durch den Volksentscheid vorgenommenen Rechtsänderungen hatten zum einen zur Folge, dass in Art. 7 Abs. 2 i. V. m. Art. 12 Abs. 3 BV ein Recht der Staatsbürger auf Teilnahme an Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden verankert wurde. Zum anderen wurde durch einfachgesetzliche Änderungen der Gemeinde- und der Landkreisordnung, die an das Kommunalwahlrecht anknüpfen, bewirkt, dass sich auch ausländische Unionsbürger an kommunalen Abstimmungen beteiligen können. Diese Konsequenz des Volksentscheids war beim Einreichen des vorgeschalteten Volksbegehrens nicht absehbar, da zu diesem Zeitpunkt ausländische Unionsbürger noch nicht berechtigt waren, auf Gemeinde- und Kreisebene an Kommunalwahlen teilzunehmen. Sie hat sich erst während des Laufs des Volksgesetzgebungsverfahrens als Folge der Änderung des Gemeinde- und Landkreiswahlgesetzes vom 26. Juli 1995 ergeben, durch die das Landesrecht an das durch Europäisches Recht eingeführte Wahlrecht ausländischer Unionsbürger bei Gemeinde- und Landkreiswahlen angepasst wurde.

Die Schaffung einer in sich widersprüchlichen Regelung, die einerseits – durch Änderung der Verfassung – die Teilnahme an kommunalen Abstimmungen auf deutsche Staatsangehörige beschränkt und die andererseits – durch Einführung entsprechender einfachrechtlicher Regelungen in der Gemeinde- und der Landkreisordnung – eben diese Teilhabe auf ausländische Unionsbürger erstreckt, lag dem Volksgesetzgeber fern. Es ist daher im Wege der Auslegung sicherzustellen, dass dem erkennbaren Willen des Volksgesetzgebers, der – allen – Gemeinde- und Landkreisbürgern ein Mehr an direktdemokratischer Beteiligung eröffnen wollte, möglichst weitgehend Geltung verschafft wird. Dafür, dass der Volksgesetzgeber diese Teilhabe gegebenenfalls auf deutsche Staatsangehörige beschränken wollte, sind keine Anhaltspunkte ersichtlich.

c) Für die Auffassung, dass Art. 7 Abs. 2 und Art. 12 Abs. 3 BV die Teilnahme ausländischer Unionsbürger an kommunalen Abstimmungen zulassen, spricht auch der Gedanke der Systemgerechtigkeit und Folgerichtigkeit eines Regelungssystems, der aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BV) und dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 118 Abs. 1 Satz 1 BV) abgeleitet wird. Ziel ist die innere Stimmigkeit eines Regelungsgefüges und seiner sachgerechten Ausdifferenzierung; sachlich in Zusammenhang stehende Regelungen dürfen keine Brüche aufweisen.

Die Umsetzung der europarechtlichen Vorgaben hat zur Folge, dass ausländische Unionsbürger den Gemeinderat und den Kreistag mitwählen und diesen Gremien auch angehören können. Sie sind an Beschlüssen des Gemeinderats und des Kreistags beteiligt und haben sogar über die Zulässigkeit von Bürgerbegehren mitzuentscheiden. Es liegt auf der Hand, dass eine Regelung, die denselben Bürgern die Mitwirkung an der Entscheidung einer einzelnen Sachfrage durch – einem Gemeinderats- bzw. Kreistagsbeschluss gleichstehenden – Bürgerentscheid verwehrt, systematische Brüche aufweist.

Auch ist es nicht nachvollziehbar, inwiefern für Wahlen und Abstimmungen auf derselben (kommunalen) Ebene verschiedene Teilnehmerkreise und damit unterschiedliche Legitimationssubjekte maßgeblich sein sollten. Es erscheint inkonsequent, eine Aufspaltung der kommunalen demokratischen Legitimationsgrundlage anzunehmen, je nachdem, ob die von den Bürgern herzuleitenden Entscheidungen einerseits von den gewählten Vertretungen bzw. Bürgermeistern oder Landräten und ihren Verwaltungen oder andererseits von den Bürgern selbst getroffen werden.

Bayerischer Verfassungsgerichtshof, E. v. 12.06.2013, Vf. 11-VII-11; PM v. 17.06.2013