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Bayerischer Gemeindetag: Kinderbetreuung – Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird

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Für Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr gilt vom 1. August 2013 an der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz in einer Kindertageseinrichtung oder in der Tagespflege. Wird es eine Flut von Klagen geben? Auf einer Fachtag des Verlags Hüthig Jehle Rehm in München gaben Experten Auskunft.

Für Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr gilt vom 1. August 2013 an der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz in einer Kindertageseinrichtung oder in der Tagespflege. Das hat der Bundestag vor knapp fünf Jahren mit Zustimmung des Bundesrats beschlossen. Erst wenn ein Platz tatsächlich zur Verfügung gestellt wird, ist der Rechtsanspruch erfüllt. Entscheidend für jede Kommune ist es, den örtlichen Bedarf zu decken. Das Sozialministerium, die kommunalen Spitzenverbände, das bayerische Landesjugendamt, die Jugendbehörden und das Staatsinstitut für Frühpädagogik haben Hinweise zur Auslegung des Rechtsanspruchs entwickelt. Näheres auch im Intranet des Bayerischen Gemeindetags.

Viele Bürgermeister, Amtsleiter in den Rathäusern, Träger von Kindertagesstätten, aber auch Eltern schauen gebannt auf diesen Termin. Wie oft kommt es zum „worst case“, zu Klagen?

„Das Problem wird größer geredet als es in Wirklichkeit ist“, sagte Arne Schwemer auf einer Fachtagung des Verlags Hüthig Jehle Rehm vor kurzem in München.

Schwemer sollte es wissen, denn er ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verwaltungsrecht. Er bereite jedenfalls derzeit keine Klagen vor. Für Anwälte sei das Thema wenig lukrativ, denn die Streitwerte sind gering.

Gerhard Dix, Referent des Bayerischen Gemeindetags, zog am Ende eines humorvoll vorgetragenen Grundsatzreferats das Resumée, er habe den Eindruck, dass am 1. August sämtliche in Frage kommenden Kinder einen Krippenplatz brauchen. Bekommen sie diesen nicht, wird geklagt. Früher seien die Kinder erst im Alter von drei bis vier Jahren in Betreuungseinrichtungen gekommen. Heute müsse das am besten als Einjähriger sein. Irgendwann werde das Kind „pränatal“ betreut.

„Es gibt auch eine Erziehungsverantwortung der Eltern“ sagte Dix unter dem großen Beifall des Auditoriums.

Eltern, die keinen Krippenplatz in Anspruch nehmen, sondern das Kind zu Hause betreuen, erhalten ebenfalls vom 1. August an ein Betreuungsgeld von zunächst 100 Euro monatlich.

Deutliche Kritik übten Dix und andere Redner an der Wirtschaft. Es gehe nicht an, dass die Unternehmen ständig junge Fachkräfte fordern, aber die sozialen Kosten kommunalisieren wollen. In den Unternehmen fehle es an Verantwortung, für die Kinder der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Betreuungsplätze bereit zu stellen.

Derzeit ist noch völlig offen, was nach dem 1. August passiert. Man weiß nicht, ob die Betreuungsplätze reichen, welche kurzfristigen Maßnahmen wie Vergrößerung der Gruppen ergriffen werden müssen, ob eine Klagewelle anrollt und wie die Gerichte reagieren. Denn das Kinderförderungsgesetz mit dem schönen Kürzel „KiföG“ lässt viele Fragen offen. Fachaufsätze und Gutachten weichen zum Teil erheblich voneinander ab, was wiederum die Kommunen verunsichert. So lautet eine der Erkenntnisse der Tagung, an der 125 Vertreter aus Kommunalpolitik und Verwaltung teilnahmen: Die größten Hindernisse auf dem Weg zu einem ausreichenden Angebot an Plätzen sind der mittlerweile europaweite Mangel an Erzieherinnen sowie in Ballungsräumen an erschwinglichen Grundstücken.

Unlängst hatte Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) mit der Ankündigung überrascht, dass Bund und Länder ihrem Ziel ziemlich nahe kämen, indem sie bis zum Stichtag bundesweit mehr als 800.000 Plätze für unter Dreijährige anbieten (für Kinder über drei Jahren besteht der Rechtsanspruch seit dem 1. Januar 1996). 100.000 sogenannte U3-Plätze soll es laut einer Pressemitteilung des Sozialministeriums in Bayern geben, eine Versorgungsrate von 47 Prozent. Da sei man fast versucht zu sagen: „Uns fehlen nicht die Plätze, sondern die Kinder“, frotzelte Dix und brachte die erstaunlichen Zahlen der Ministerien mit den Wahlen im Herbst in Verbindung. Die Zielvorstellung lag bei bundesweit 780.000 Krippenplätzen. Damit wären 39 Prozent der Kinder unter drei Jahren untergebracht. Laut Dix treffen jedoch alle Annahmen des Bundes und auch des bayerischen Sozialministeriums nicht zu. Nicht zuletzt wegen Engpässen in den Ballungszentren seien deutlich mehr Plätze notwendig. Damit sei auch das Kostentableau von ursprünglich 12 Milliarden Euro hinfällig.

Was aber feststeht: Zwei Drittel aller neu geschaffenen Plätze von 2008 bis 2012 entstanden in den kreisangehörigen Kommunen.

„Oft haben die Gemeinden schneller gebaut, als Geld vom Bund nach Bayern fließen konnte.“

Bauwilligen Gemeinden empfiehlt Dix, den Antrag für das Sonderinvestitionsprogramm des Bundes unbedingt bis zum 31.12. 2013 zu stellen. Es umfasst über vier Milliarden Euro, wird aber durch Landesmittel in Bayern noch erheblich aufgestockt.

Bedarfsplanung

Bei der Bedarfsplanung für die Kinderbetreuung ist ein ganzer Katalog von Einzelpunkten zu beachten. Sie sollte qualifiziert und vor allem rechtzeitig vorgenommen werden. Dazu zählt der Ist-Zustand, die Geburtenrate, der Prozentsatz jener Kinder, die eine außerfamiliäre Betreuung in Anspruch nehmen, die Befragung der Eltern, die Bauleitplanung (wo entsteht Wohnraum für junge Familien), bis hin zum Augenmerk auf die Entwicklung der Arbeitsplätze, insbesondere die Frauenarbeitsplätze. Es habe sich als clever erwiesen, so Susanne Herrmann von der Stadt München, das Planungsreferat mit ins Boot zu nehmen. So wurde frühzeitig jedes Grundstück geprüft, „auf das man eine Kita stellen kann.“

Die Gesamtverantwortung der Planung liegt beim örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe. Das sind die Landratsämter und die kreisfreien Städte. Dix empfiehlt, mit dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe auch ein Tagespflegenetz aufzubauen, falls nicht genügend Kita-Plätze vorhanden sind. Tagesmütter und Tagesväter zu finden, hänge auch von der Bezahlung ab.

„2,73 Euro pro Stunde locken niemand hinter dem Ofen vor. In München wird auf 8 Euro erhöht, damit ein finanzieller Anreiz besteht.“

Erfüllung des Rechtsanspruchs

Erfüllung des Rechtsanspruchs: Der Rechtsanspruch richtet sich auf einen Betreuungsplatz in einer Kindertageseinrichtung oder in der Tagespflege. Ein Betreuungsplatz kann auch ein Kindergartenplatz sein, betonte Bruno Didrichson, zuständiger Amtsleiter in der Stadt Germering. Kitas benötigen eine Betriebserlaubnis und müssen die Fördervoraussetzungen des Bayerischen Kinderbildungs- und Betreuungsgesetzes (BayKiBiG) erfüllen. Reichen die Krippenplätze nicht aus, lassen sie sich unter Umständen in der Tagespflege ausgleichen. Tagesmütter müssen einen Qualifizierungsnachweis von mindestens 100 Stunden vorweisen.

Das Wunsch- und Wahlrecht der Eltern beschränkt sich auf bestehende Einrichtungen und Plätze in der Tagespflege. Es gibt keinen Rechtsanspruch auf einen bestimmten Platz. Gemeinden können auf einen anderen Platz im Ort, beziehungsweise im Nachbarort verweisen.

Umfang der Betreuung

Der Anspruch des Kindes auf Förderung ist auf die Tagesstunden begrenzt. Allerdings kann in Fremdenverkehrsorten Bedarf auch außerhalb der üblichen Zeiten entstehen. Ein Kind im Alter von 1 bis 3 Jahren hat einen Bildungsanspruch von 20 Stunden pro Woche. Das Sozialgesetzbuch spricht beim zeitlichen Umfang auch vom „individuellen Bedarf“. Für eine nähere Definition dieses Bedarfs bietet sich zum Beispiel die Erwerbstätigkeit an, wenn Eltern länger arbeiten müssen. Gutachter kommen auf eine Betreuungszeit von maximal 45 Stunden pro Woche, das sind 9 Stunden täglich.

Elternbeitrag und Ortsbezug

Die Kosten für einen Platz sind zumutbar, wenn sie den 1,5-fachen Satz der staatlichen Förderung nicht übersteigen. Bei einem Basiswert von 930 Euro beläuft sich das 1,5-fache auf etwa 230 Euro im Monat für einen Halbtagsplatz.

Steht kein örtlicher Platz zur Verfügung, gilt eine einfache Wegstrecke zu einem auswärts gelegenen Bertreuungsplatz von bis zu 30 Minuten als zumutbar.

Geltendmachung des Anspruchs

„Was passiert, wenn Ihnen Jens-Thorben oder Vanessa-Jacqueline auf den Schreibtisch gelegt werden?“, formulierte Dix drastisch.

Die Anmeldefrist beträgt 3 Monate.

„Diese Zeit haben Sie, um zu reagieren.“

Es gilt das ortsübliche Anmeldeverfahren, das die Gemeinden und freigemeinnützigen Träger vorgeben. Die Anmeldung für einen Tagespflegeplatz erfolgt beim Träger der öffentlichen Jugendhilfe. Gegen sie richtet sich auch der Rechtsanspruch des Kindes. Allerdings sind es die Gemeinden, die Betreuungsplätze zur Verfügung stellen müssen. Wird erkennbar, dass die Aufenthaltsgemeinde keinen Platz mehr hat, sollte sich diese sofort mit dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe in Verbindung setzen. Bei Klagen sitzen Gemeinden und Landkreise in einem Boot. Unglücklich findet Dix die doppelte Zuständigkeit bei der Tagespflege. So müssten „fleißige“ Gemeinden doppelt zahlen, einmal direkt und einmal über die Kreisumlage. Daher sollte auf Landkreisebene eine einheitliche Finanzierungsregelung gefunden werden.

Praktisches Vorgehen

Die Kommunen sollten, da waren sich alle Experten einig, sämtliche Vorgänge in Zusammenhang mit Krippenplätzen schriftlich dokumentieren und alle Unterlagen aufheben, wenn private Träger die Plätze zur Verfügung stellen. Ebenso sollen Suchanzeigen nach Erzieherinnen archiviert werden, um später bei Gericht als Beweis für die – vergeblichen – Bemühungen zu dienen, Kräfte zu finden. Das wäre beispielsweise beim Tatbestand einer „schuldhaften Amtspflichtverletzung“ der Fall, wenn die Gemeinde den Bedarf schlecht geplant oder zwar die Kita gebaut, aber keine Erzieherin dafür hat. Die Gemeinden sollten einen Platz schriftlich anbieten, rät Rechtsanwalt Schwemer, um bei Ablehnung einen Nachweis zu haben und nicht regresspflichtig zu werden. Nur wenn der Anspruchsinhaber, das Kind, vertreten durch die Eltern, einen nachweisbaren Schaden erleidet, sieht Isabel Schübel-Pfister, am Landratsamt Starnberg zuständig für kommunale und soziale Angelegenheiten, einen Anhaltspunkt für die sogenannte Amtshaftung. Unbedingt sollten die Gemeinden die Widerspruchsschreiben der Eltern an das Landratsamt weiterleiten, so die Juristin.

Nichterfüllung des Rechtsanspruchs

Hier kann es zur Klage kommen. Beispielhaft ist ein Fall aus Rheinland-Pfalz. Eine Mutter aus Mainz bekam keinen Betreuungsplatz für ihr Kind. Für 400 Euro buchte sie einen privaten Platz und klagte auf Kostenersatz vor dem Verwaltungsgericht. Sie bekam Recht. Der Fall geht jetzt in die nächste Instanz. Dix kann sich vorstellen, dass auch in Bayern Klagen in diese Richtung gehen. Strittig ist, ob Eltern auch ihren Verdienstausfall einklagen können. Erziehungsberechtigte haben aber auch die Pflicht, durch eigene Bemühungen Schäden zu mindern. So dürfen sie keine sündteuren Luxuseinrichtungen aussuchen, in denen ihr Sprößling Englisch, Chinesisch lernt und in die Sauna geht. Gerade Münchner Eltern würden solche Hochpreiseinrichtungen nachfragen, so Susanne Herrmann, Leiterin für die Kindertageseinrichtungen im Referat für Bildung und Sport der Stadt München.

Handlungsbedarf und Wünsche

Handlungsbedarf und Wünsche äußerte der Germeringer Amtsleiter Didrichsons insbesondere an die Adresse der staatlichen Stellen. Sie sollen die Härtefallregeln prüfen, wenn der Anstellungsschlüssel nicht eingehalten wird; die förderfähigen Raumprogramme von der Fläche her vergrößern, denn es gelte auch die Vorgaben der Integration und Inklusion zu erfüllen; weitere Erleichterung bei der Anerkennung ausländischer oder verwandter Qualifikationen; zusätzliche Entlastung der Kommunen bei den laufenden Kosten. Das bisherige Angebot sei einfach zu gering; Überprüfung der EU-Vorschriften hinsichtlich der Ausschreibungspflichten im Kinderbetreuungsbereich. Die europaweite Ausschreibung beispielsweise für eine 6-gruppige Kindertageseinrichtung sei für die Stadtverwaltung nicht mehr zu machen. Das bedürfe einer Fachkanzlei und sei mit erheblichen Kosten verbunden; deshalb Aufnahme der Kosten für externe Beratung bei EU-Ausschreibungen für die förderfähigen Kosten; Modifizierung des Rechtsanspruchs bei „pädagogisch unmöglichen“ Wechseln von der Krippe in den Kindergarten während des Jahres. Am meisten liegt Didrichsons aber die Überprüfung des Sonderinvestitionsprogramms für den Krippenausbau am Herzen, das bereits Ende 2014 ausläuft. Momentan erhält die Stadt „null Förderung“. Es müsse aber jetzt eine Entscheidung fallen. Aus dem Sozialministerium gebe es keine Antwort. Am Ende wird den Germeringern nichts anderes übrig bleiben, als einen Antrag im Rahmen des Kommunalen Finanzausgleichs zu stellen.

Ob nach dem 1. August eine Klagewelle auf die Kommunen zurollt und wie die Gerichte entscheiden, ist derzeit völlig offen.

„Vielleicht kommt es so oder ganz anders“, prophezeit Fachanwalt Schwemer.

Klaus Schulenburg vom Bayerischen Landkreistag ist sich sicher, dass es im gemeinsamen Zusammenwirken von Gemeinden und Landkreisen gelingen werde, den Anspruchsbegehren „pragmatisch gerecht“ zu werden.

„Bis jetzt sind die Kommunen entspannt-nervös“, beschreibt Julius Forster vom Bayerischen Städtetag die Stimmung in den Rathäusern.

Susanne Herrmann von der Stadt München gibt sich „vorsichtig optimistisch, dass wir es schaffen können.“ Eines dürfte aber schon jetzt feststehen. Haben die Eltern ihren Anspruch auf dem Klageweg durchgesetzt, dürfte ihr Kind das Abitur in der Tasche haben.

Bayerischer Gemeindetag, Aktuelles v. 18.07.2013 (Manfred Hummel)