Gesetzgebung

Staatskanzlei: Positionspapier zur Zuwanderung in soziale Sicherungssysteme

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Das Bayerische Kabinett hat in seiner heutigen Sitzung folgendes Positionspapier zur Zuwanderung in die sozialen Sicherungssysteme beschlossen:

„Ja zur Freizügigkeit – Nein zur Zuwanderung in die sozialen Sicherungssysteme“

1. Die Staatsregierung bekennt sich zur Arbeitnehmerfreizügigkeit in der Europäischen Union. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist ein Gewinn für die Menschen in Europa wie auch für unsere Wirtschaft und den Arbeitsmarkt. Diese Errungenschaft der europäischen Integration gilt es zu erhalten.

2. Freizügigkeit dient vor allem auch der Nutzung der Chancen eines gemeinsamen Arbeitsmarktes, nicht aber der Zuwanderung in die Sozialsysteme. Freizügigkeit darf nicht als Wahlfreiheit in Bezug auf die besten Sozialleistungssysteme missverstanden werden. Da die Zahl der Bezieher von Sozialleistungen mit Herkunft aus den osteuropäischen Mitgliedstaaten neuerdings stark steigt, besteht Handlungsbedarf.

Die steigende Inanspruchnahme von Sozialleistungen belastet Sozialleistungssysteme und Kommunen. Die Oberbürgermeister der Landeshauptstadt München sowie der Städte Hof, Nürnberg und Regensburg haben sich im vergangenen Jahr an die Münchner Bundestagsabgeordneten und die Parteivorsitzenden der Regierungskoalition im Bund gewandt. Hierin weisen sie auf ihre Probleme mit dem Zuzug von Menschen hin, die keiner geregelten Erwerbsarbeit nachgehen und – abgesehen vom regelmäßigen Kindergeldbezug – über kein ausreichendes Familieneinkommen sowie zumeist auch über keinen Krankenversicherungsschutz verfügen. Die von dieser Zuwanderung belasteten Kommunen bedürfen der Unterstützung des Bundes wie im Koalitionsvertrag vereinbart, denn sie müssen zumindest Notunterkünfte, Grundversorgung bei der Ernährung und medizinische Notversorgung sicherstellen. Die Staatsregierung wird mit den kommunalen Spitzenverbänden die erforderlichen Maßnahmen der Soforthilfe erörtern und die Bundesregierung zu schneller Umsetzung auffordern. Um die Akzeptanz der Bevölkerung für die Freizügigkeit zu erhalten, muss der ungerechtfertigten Inanspruchnahme von Sozialleistungen konsequent entgegengetreten werden.

Auch die Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Armutszuwanderung aus Osteuropa“ sieht Handlungsbedarf vorwiegend im Sozialbereich (Hartz IV, Sozialhilfe, Kindergeld, Gesundheitsversorgung).

Die Koalitionspartner auf Bundesebene haben sich im Koalitionsvertrag darauf geeinigt, der ungerechtfertigten Inanspruchnahme von Sozialleistungen durch EU-Bürger entgegenzuwirken.

3. Um dem oben dargestellten Zuwanderungsproblem zu begegnen, muss auf mehreren Ebenen vorgegangen werden:

a) Das Problem der Zuwanderung in die sozialen Sicherungssysteme muss an seiner Wurzel angepackt werden. Die Lebensbedingungen von Minderheiten in den Herkunftsländern müssen verbessert werden. Die Verantwortung dafür und für die Bekämpfung von Diskriminierung sowie die Integration von Minderheiten trifft in erster Linie die betroffenen Mitgliedsstaaten. Die EU begleitet und unterstützt die nationalen Anstrengungen, vor allem finanziell. Hierzu muss die EU-Kommission die Herkunftsländer, insbesondere Rumänien und Bulgarien, in die Pflicht nehmen. Diese müssen die Lebensbedingungen in ihren Ländern gerade auch für Minderheiten verbessern und die hierfür bereitgestellten Mittel endlich abrufen sowie effektiv und zielgerichtet einsetzen.

b) Der Missbrauch des Freizügigkeitsrechts muss klare aufenthaltsrechtliche Konsequenzen haben. Fälle von ungerechtfertigter Inanspruchnahme von Sozialleistungen müssen nicht nur den Verlust des Freizügigkeitsrechts nach sich ziehen, sondern auch eine Wiedereinreisesperre. Die Staatsregierung fordert eine entsprechende Änderung der Freizügigkeitsrichtlinie.

c) Die Staatsregierung hält es für erforderlich, dass ordnungspolitische Maßnahmen geprüft und umgesetzt werden, wo Leistungsmissbrauch, kriminelle Strukturen und Ausbeutung Integration behindern und zulasten der Zuwandernden selbst gehen.

d) Die ungerechtfertigte Inanspruchnahme von Sozialleistungen muss wirksam unterbunden werden.

– Nach deutschem Recht sind Leistungen der „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ für nicht erwerbstätige Unionsbürger in den ersten drei Monaten ausgeschlossen, in der anschließenden Zeit gilt ein Leistungsausschluss, wenn ein Aufenthaltsrecht allein wegen Arbeitssuche besteht. Diese Leistungsausschlüsse müssen europafest gemacht werden, weil aufgrund der Rechtsprechung des EuGH und teilweise der deutschen Sozialgerichte, die das EU-Recht als unmittelbar geltendes und dem SGB II vorgehendes Recht anwenden, eine Nichtanwendung der im deutschen Recht normierten Leistungsausschlüsse für Ausländer wegen möglicher Unvereinbarkeit mit Europäischem Recht droht. Der Europäische Gerichtshof ist mit Fragen zur Vereinbarkeit deutscher Leistungsausschlüsse mit dem europäischen Recht befasst. In einem aktuellen Vorlageverfahren hat die EU-Kommission die Auffassung vertreten, dass arbeitssuchende EU-Bürger nicht generell und ohne Einzelfallprüfung von SGB-II-Leistungen ausgeschlossen werden können.

All dies zeigt, dass der Kern des Problems ein europarechtliches ist. Zudem greift der Leistungsausschluss nicht, wenn der EU-Bürger ein Aufenthaltsrecht als ehemaliger Arbeitnehmer oder Selbständiger hat. Derzeit genügt ein einziger Tag (sogar geringfügiger) Arbeit, um als ehemaliger oder Selbständiger Arbeitnehmer zu gelten. Um eine mindestens zweimonatige Tätigkeit zu fordern, ist eine Änderung der europäischen Freizügigkeitsrichtlinie erforderlich. Die Staatsregierung fordert daher eine Änderung der europarechtlichen Grundlagen.

– Die Sozialhilfe darf künftig erst drei Monate nach der Einreise und nur bei Vorliegen eines Freizügigkeitsrechts beansprucht werden können, das nicht allein zum Zweck der Arbeitssuche besteht. Die Staatsregierung fordert einen entsprechenden Leistungsausschluss im nationalen Recht, der gleichfalls europafest gemacht werden muss.

– Der Erwerb des Daueraufenthaltsrechts hat den uneingeschränkten Zugang zu Sozialleistungen zur Folge. Gerade mit Blick auf die „Grundsicherung im Alter“, aber auch für alle übrigen Sozialleistungen, muss der Erwerb des Daueraufenthaltsrechts an engere Voraussetzungen geknüpft werden. Beispiel: Ein Unionsbürger reist wenige Jahre vor Eintritt in das Rentenalter in Deutschland ein und hat weder im Heimatstaat noch in Deutschland ausreichend Rentenanwartschaften erworben. Dann ist es nicht sachgerecht, wenn er nach Ablauf von fünf Jahren ein Daueraufenthaltsrecht und damit einen Anspruch auf unbeschränkte Sozialhilfeleistungen (Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung) hat. Daher ist insbesondere zu fordern, dass der Betroffene während seines bisherigen Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen und keine vergleichbaren beitragsunabhängigen Geldleistungen beansprucht hat, dass er ausreichenden Krankenversicherungsschutz besitzt und auch mit Blick auf seine bislang erworbenen Rentenanwartschaften voraussichtlich nicht auf Grundsicherung im Alter angewiesen sein wird. Die Staatsregierung fordert hierzu eine Änderung der Freizügigkeitsrichtlinie.

– Auch bei der Gewährung von Kindergeld besteht Handlungsbedarf. Die Staatsregierung fordert die Bundesregierung auf, erneut zu prüfen, ob die Kindergeldberechtigung an strengere Voraussetzungen geknüpft werden kann, insbesondere wie ein Ausschluss für die ersten drei Monate nach Einreise vorgesehen oder eine Anpassung der Höhe des Kindergeldes an den Lebensstandard im jeweiligen Aufenthaltsort vorgenommen werden kann.

– Auch im Verwaltungsvollzug ist dem ungerechtfertigten Bezug von Sozialleistungen zu begegnen:

— Die Staatsregierung hält eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Ausländerbehörden, Jobcentern und Sozialhilfebehörden für erforderlich, um bei Nichtbestehen oder Wegfall der Voraussetzungen die ungerechtfertigte Inanspruchnahme von Sozialleistungen zu vermeiden und zeitnah den Verlust des Freizügigkeitsrechts feststellen zu können.

— Um Fälle des Sozialleistungsbetrugs durch Scheinselbständige, die zwar einen Gewerbeschein haben, aber kein Gewerbe ausüben, zu verhindern, darf sich das Jobcenter nicht mit der Vorlage eines Gewerbescheins begnügen, sondern muss als Voraussetzung für den Bezug von Hartz IV den Nachweis eines Mindestumsatzes verlangen, so dass Hartz IV lediglich als Aufstockung dient. Die Staatsregierung fordert von der Bundesagentur für Arbeit, einen entsprechenden Hinweis in ihre Vollzugshinweise zu § 7 SGB II aufzunehmen.

4. Die Staatsregierung begrüßt die Initiative der Bundesregierung, einen Staatssekretärsausschuss zur Bewältigung der Herausforderungen durch die oben beschriebene Zuwanderung einzusetzen. Sie fordert, die genannten Lösungsansätze auf nationaler und europäischer Ebene aufzugreifen.

Die Staatsregierung lehnt die Positionierung der EU-Kommission in der Frage der Zuwanderung in nationale Sozialsysteme dezidiert ab. Die EU-Kommission verkennt das Problem und räumt ihm nach wie vor nicht den erforderlichen politischen Stellenwert ein. Zwar hat die Kommission Maßnahmen vorgeschlagen, diese sind jedoch vollkommen unzureichend. Auch kann die Lösung nicht darin liegen, wie von der EU-Kommission vertreten, die Leistungsausschlüsse im deutschen Recht für EU-Bürger weitgehend auszuhebeln, sondern im Gegenteil die deutschen Leistungsausschlüsse europarechtlich abzusichern.

Die Staatsregierung fordert die Kommission daher auf, die notwendigen Rechtsänderungen vorzuschlagen.

Die Staatsregierung bittet die EU-Ratspräsidentschaft, das Thema schnellstmöglich auf die Tagesordnung des Rates zu setzen.

Staatskanzlei, Bericht aus der Kabinettssitzung, PM v. 13.01.2014