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Rezension: Pagenkopf, 150 Jahre Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland (Boorberg, 2014)

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01_Prof. Lindner_passvon Prof. Dr. Josef Franz Lindner, Universität Augsburg

Das Wesensmerkmal des Rechtsstaates ist es, dass der rechtswidrig handelnde Staat durch von ihm selbst geschaffene und garantierte Einrichtungen feststellt, dass er rechtswidrig gehandelt hat. Das Paradoxon des sich selbst verurteilenden und zähmenden Staates ist das eigentliche Geheimnis eines funktionierenden Rechtsstaats. Maßgeblich zum Ausdruck kommt dies in Art. 19 Abs. 4 GG, wonach jeder, der durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt ist, den Rechtsweg bestreiten kann. Dieser Verfassungsauftrag wird zumal durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit, ausgestaltet in der Verwaltungsgerichtsordnung, umgesetzt. Eine unabhängige Verwaltungsgerichtsbarkeit ist ein wichtiger Gradmesser für die Effektivität des Rechtsstaats.

Zu Recht feiert man daher „150 Jahre Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland“. Aus diesem Anlass ist anzuzeigendes Buch erschienen, verfasst von Martin Pagenkopf, einem Richter am Bundesverwaltungsgericht a.D. Der Autor verfügt über verschiedene Blickwinkel auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit, nicht nur aus der Sicht des Verwaltungsrichters, sondern auch aus der Sicht des Ministerialbeamten sowie des Rechtsanwalts.

Das Buch ist in sieben Teile gegliedert. Teil A beschreibt die Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit von 1863 bis 1918. Beschrieben werden die Anfänge im Großherzogtum Baden, die französischen Einflüsse bei der Einrichtung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in den süddeutschen Staaten des deutschen Bundes, in den Königreichen Bayern und Württemberg, in Preußen sowie in den weiteren deutschen Gliedstaaten. Teil B ist der Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Zeit der Weimarer Reichsverfassung gewidmet. Teil C behandelt das beklemmende Thema der Verwaltungsgerichtsbarkeit in der NS-Zeit. Der Neuaufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit in den westlichen Besatzungszonen und in der Frühzeit der Bundesrepublik ist Gegenstand des Teils D. Ein eigener Teil E ist der Verwaltungsgerichtsbarkeit in der sowjetischen Besatzungszone sowie in der DDR gewidmet. Der Teil F schließlich behandelt die Vorarbeiten zur sowie die Verabschiedung der Verwaltungsgerichtsordnung und beschreibt die seitdem ergangenen Novellen und Reformansätze. Dabei lässt der Autor auch durchaus eigene kritische Stellungnahmen einfließen.

Das Buch enthält einen Materialteil, der aus zwei Anhängen besteht. In Anhang 1 werden prägende Gestalten der Verwaltungsgerichtsbarkeit kurz biografisch vorgestellt, Anhang 2 enthält eine Auswahl von Dokumenten zur Geschichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit.

Insgesamt zeichnet das Buch einen guten Überblick über die Geschichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit und macht auch immer wieder deutlich, wie sich die Verwaltungsgerichtsbarkeit parallel auch zu gesellschaftlichen Veränderungen weiterentwickelt.

Das 150-jährige Jubiläum der Verwaltungsgerichtsbarkeit sollte freilich nicht nur für Festreden und Festschriften Anlass geben, sondern durchaus auch für die kritische Reflexion mancher Entwicklungen der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Dies tut der Verfasser in Teil G. Hier ist insbesondere der weitgehende Wegfall des Widerspruchsverfahrens (§§ 68 ff. VwGO) in manchen Ländern (auch in Bayern) zu nennen. Problematisch ist auch die Regelung des § 114 Satz 2 VwGO, die das Nachschieben von Ermessenerwägungen auch noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren zulässt. Kritisch zu hinterfragen ist zudem die jüngste Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Zulässigkeit der Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO (BVerwG, Urt. v. 16.5.2013 – 8 C 14/12 u.a., NVwZ 2013, S. 1481 ff.): Bei der echten Fortsetzungsfeststellungsklage, also bei Verwaltungsakten, die sich nicht typischerweise kurzfristig erledigen, lässt das Bundesverwaltungsgericht für die Bejahung des Fortsetzungsfeststellungsinteresses selbst einen tiefgreifenden Grundrechtseingriff alleine nicht mehr genügen. Ausgerechnet unter Berufung auf Art. 19 Abs. 4 GG reißt das Bundesverwaltungsgericht damit eine empfindliche Rechtsschutzlücke. Es bleibt zu hoffen, dass das Bundesverfassungsgericht Gelegenheit haben wird, diese Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu korrigieren (vgl. dazu auch Lindner, NVwZ 2014, S. 180 ff.).

Fazit: Wer sich einen fundierten, aber auch kritischen Überblick über die Geschichte und Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland verschaffen will, ist mit dem anzuzeigenden Werk von Pagenkopf gut versorgt.

 

Martin Pagenkopf, 150 Jahre Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland, Richard Boorberg Verlag, Stuttgart 2014, 332 Seiten, ISBN 978-3-415-05152-2. 54,00 Euro

 

Anmerkung der Redaktion

Prof. Dr. Josef Franz Lindner ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Universität Augsburg. Der Lehrstuhl widmet sich dem Öffentlichen Recht in der gesamten Breite, den philosophischen Grundlagen des Rechts sowie dem Bio-, Medizin- und Gesundheitsrecht. Die Forschungsschwerpunkte liegen u.a. beim Staats- und Verfassungsrecht unter besonderer Berücksichtigung des Freistaates Bayern, beim Öffentlichen Recht im europäischen Mehrebenensystem sowie im Bildungs- und Beamtenrecht.

 

Net-Dokument BayRVR2014022501