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BVerwG: Versammlungsbeschränkung an Tagen mit besonderer Symbolkraft (hier: Holocaust-Gedenktag am 27. Januar)

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Denkmal für die ermordeten Juden Europas (Holocaust-Mahnmal Berlin)Zum Sachverhalt

Die Klägerin meldete am 25. Januar 2012 eine Versammlung für den 27. Januar 2012 in Form einer Mahnwache an. Diese sollte unter dem Motto „Von der Finanz- zur Eurokrise – zurück zur D-Mark heißt unsere Devise“ in der Trierer Innenstadt stattfinden. Als Anlass wurde ein für den 27. Januar 2012 angekündigter Vortrag von Prof. Max O. im Bischöflichen Priesterseminar Trier mit dem Thema „Von der Finanz- zur Eurokrise“ angegeben. Als Hilfsmittel sollten Megafon, Fahnen und Spruchbänder verwendet werden. 15 Versammlungsteilnehmer würden erwartet.

Unter Anordnung der sofortigen Vollziehung verfügte die Beklagte am 26. Januar 2012 die Verlegung der Versammlung auf den 28. Januar 2012. Die Verfügung stelle eine Auflage dar, die zum Schutz der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt sei. Der 27. Januar, der Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, diene seit 1996 in Deutschland offiziell dem Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus. Die Durchführung einer Versammlung an diesem Tag durch die Klägerin sei als eine Provokation zu bewerten, durch die grundlegende soziale und ethische Anschauungen und Empfindungen verletzt würden. Die Klägerin sei eine Partei, die nach ihrem eigenen Selbstverständnis dem rechtsextremen politischen Spektrum zuzuordnen sei. Sie lasse in der öffentlichen Wahrnehmung die notwendige Distanz zu dem menschenverachtenden Unrechtsregime vermissen, das die Opfer zu verantworten habe, derer am 27. Januar gedacht werde. Nicht entscheidend sei, dass sich das Motto der Versammlung nicht mit den Opfern des Nationalsozialismus auseinandersetze.

Die Klägerin legte Widerspruch ein und beantragte beim VG, dessen aufschiebende Wirkung wiederherzustellen. Der Antrag wurde abgelehnt. Die Beschwerde zum OVG blieb ohne Erfolg. Den weiteren Antrag der Klägerin auf Erlass einer einstweiligen Anordnung durch das BVerfG lehnte dieses mit Kammerbeschluss vom 27. Januar 2012 ab.

Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin die Feststellung, dass der Bescheid der Beklagten vom 26. Januar 2012 rechtswidrig war. Das VG hat die Klage abgewiesen. Das OVG hat die Berufung zurückgewiesen: Die Verlegung der Versammlung um einen Tag stelle eine Auflage, kein Verbot dar. § 15 Abs. 1 VersG erlaube Auflagen auch zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Ordnung, sofern diese nicht aus dem Inhalt von Äußerungen, sondern aus der Art und Weise der Durchführung der Versammlung hergeleitet würden. Die öffentliche Ordnung könne verletzt sein, wenn Rechtsextremisten einen Aufzug an einem Tag, welcher der Erinnerung an das Unrecht des Nationalsozialismus und den Holocaust diene, so durchführten, dass von seiner Art und Weise Provokationen ausgingen, die das sittliche Empfinden der Bürger erheblich beeinträchtigten. Diese Voraussetzung sei hier erfüllt. Die Versammlung wäre hier nicht lediglich in irgendeinem Sinn dem Gedenken am 27. Januar entgegen gelaufen. Von ihr wäre eine besondere, für die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung des sittlichen Empfindens der Bürger hinreichende Provokationswirkung ausgegangen. Die Klägerin habe das Thema der Versammlung lediglich als Aufhänger gewählt, während die dahinter stehende Motivation von der Bevölkerung darin gesehen werde, an einem zentralen Ort in der Innenstadt Präsenz zu zeigen und nach außen zu dokumentieren, dass man als rechtsextreme Partei trotz des Gedenktags „Flagge zeigen“ könne. Für diese Einschätzung würden mehrere Umstände sprechen. Der von der Klägerin benannte Bezug zum Vortrag von Prof. O. wirke gesucht. Die Finanz- und Eurokrise stehe seit längerem im Fokus der politischen Diskussion. Es sei nicht erkennbar, wieso eine Veranstaltung der Klägerin zu diesem Thema nicht mit gleicher Wirkung am Folgetag hätte durchgeführt werden können, zumal ein spezifischer Bezug zwischen den Thesen von Prof. O. und dem wirtschaftspolitischen Programm der Klägerin weder dargetan noch ersichtlich sei. Dies dränge den Eindruck auf, die Klägerin habe nur nach einem beliebigen Anlass gesucht, um am Gedenktag des 27. Januar Präsenz zeigen zu können. Hierfür spreche zudem, dass die Klägerin bereits am 22. Januar 2012 eine Versammlung zum gleichen Thema durchgeführt habe. Es sei ungewöhnlich und nicht ohne weiteres nachvollziehbar, weshalb eine Partei wie die Klägerin innerhalb von nur fünf Tagen in der gleichen Stadt ihr wirtschaftspolitisches Programm ein zweites Mal der Öffentlichkeit durch eine Versammlung vorstellen wolle. Schließlich habe die Klägerin auch nach dem 26. Januar 2012 auffällig oft Versammlungen an Tagen durchgeführt, die einen Bezug zur Herrschaft der Nationalsozialisten aufwiesen. Es sei unwahrscheinlich, dass es sich hier um einen Zufall handle. Vielmehr bestärke dies die Einschätzung, dass die Klägerin sich einen beliebigen Anlass gesucht habe, um an diesen Tagen in der Öffentlichkeit Präsenz zu zeigen.

Das BVerwG sah die Revision der Klägerin als begründet an.

Leitsätze

Das BVerwG hat folgende Leitsätze formuliert:

1. Auch Gründe der öffentlichen Ordnung berechtigen zum Erlass eines Versammlungsverbots, wenn Gefahren nicht aus dem Inhalt, sondern aus der Art und Weise der Durchführung der Versammlung drohen, sofern Auflagen zur Gefahrenabwehr nicht ausreichen (im Anschluss an BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2004 – BVerfGE 111, 147 <156 f.>).

2. Verfügt eine Behörde wegen unmittelbarer Gefährdung der öffentlichen Ordnung eine versammlungsrechtliche Beschränkung gegenüber einer politischen Partei, stützt sie ihr Einschreiten nicht auf eine vermeintliche Verfassungsfeindlichkeit des Verhaltens oder der Programmatik dieser Partei.

3. Für eine Versammlungsbeschränkung aus Gründen der öffentlichen Ordnung reicht es nicht aus, dass die Durchführung einer Versammlung am Holocaust-Gedenktag (27. Januar) in irgendeinem, beliebigen Sinne als dem Gedenken zuwiderlaufend zu beurteilen ist. Vielmehr ist die Feststellung erforderlich, dass von der konkreten Art und Weise der Versammlung Provokationen ausgehen, die das sittliche Empfinden der Bürger erheblich beeinträchtigen (im Anschluss an BVerfG, Kammerbeschluss vom 27. Januar 2012 – 1 BvQ 4/12 – juris Rn. 7). Diese Feststellung setzt voraus, dass die Versammlung eine den Umständen nach eindeutige Stoßrichtung gegen das Gedenken erkennen lässt, etwa diesem nicht den ihm aus Sicht der Mitbürger gebührenden Stellenwert belässt, insbesondere dessen Sinn oder moralisch-ethischen Wert negiert, oder in anderer Weise dem Anspruch der Bürger entgegenwirkt, sich ungestört dem Gedenken zuwenden zu können, ohne hierbei erheblichen Provokationen ausgesetzt zu sein.

4. Für den Grundrechtsträger besteht keine Obliegenheit, für die Bestimmung des Versammlungszeitpunkts Gründe zu liefern. Sind solche Gründe für die Versammlungsbehörde oder nach deren Einschätzung aus Sicht der Mitbürger nicht erkennbar bzw. nicht nachvollziehbar, reicht die hieraus hergeleitete Wahrnehmung, der Grundrechtsträger suche die Präsenz lediglich um ihrer selbst willen, grundsätzlich nicht für die Anordnung einer Versammlungsbeschränkung am Holocaust-Gedenktag mit der Begründung aus, von der Versammlung würden Provokationen ausgehen, die das sittliche Empfinden der Bürger erheblich beeinträchtigen.

Zur Begründung

Die Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 VersG seien nicht gegeben. Für eine mögliche unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit hätten – wovon auch das OVG ausgegangen ist – von Anbeginn keine Anhaltspunkte vorgelegen. Nach Auffassung des BVerwG hätte jedoch auch keine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Ordnung angenommen werden dürfen.

Auflage oder Verbot?

Ob es sich bei der Anordnung der Beklagten (Verlegung der Versammlung um einen Tag) um ein Versammlungsverbot oder um eine Auflage handele, bedürfe keiner Vertiefung, denn das BVerfG habe klargestellt, dass auch Gründe der öffentlichen Ordnung zum Erlass eines Versammlungsverbots berechtigen, wenn Gefahren nicht aus dem Inhalt von Äußerungen, sondern aus der Art und Weise der Durchführung der Versammlung drohen, sofern Auflagen zur Gefahrenabwehr nicht ausreichen (BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2004 – 1 BvQ 19/04 – BVerfGE 111, 147 <156 f.>).

Begriff der öffentlichen Ordnung: Gedenken an Tagen mit besonderer Symbolkraft erfasst

Unter öffentlicher Ordnung im Sinne von § 15 Abs. 1 VersG ist die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln zu verstehen, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden und mit dem Wertgehalt des Grundgesetzes zu vereinbarenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebiets anzusehen ist.

Kommt einem bestimmten Tag in der Gesellschaft ein eindeutiger Sinngehalt mit gewichtiger Symbolkraft zu, darf dieser Sinngehalt bei einer Versammlung an diesem Tag nicht in einer Weise angegriffen werden, dass dadurch zugleich grundlegende soziale oder ethische Anschauungen in erheblicher Weise verletzt werden. Beim Holocaust-Gedenktag am 27. Januar handelt es sich um einen solchen Tag.

Gefährdung der öffentlichen Ordnung – Maßstab bei einer Versammlungsbeschränkung

Für eine Versammlungsbeschränkung aus Gründen der öffentlichen Ordnung im vorbezeichneten Sinne reiche jedoch nicht aus, dass die Durchführung der Versammlung am Holocaust-Gedenktag in irgendeinem, beliebigen Sinne als dem Gedenken zuwiderlaufend zu beurteilen sei, so das BVerwG. Vielmehr sei die Feststellung erforderlich, dass von der konkreten Art und Weise der Durchführung der Versammlung Provokationen ausgingen, die das sittliche Empfinden der Bürger erheblich beeinträchtigten (BVerfG, Kammerbeschluss vom 27. Januar 2012 – 1 BvQ 4/12 – juris Rn. 7 m.w.N.).

Lägen diese Voraussetzung nicht vor und seien wie hier Schutzgüter der öffentlichen Ordnung unter keinem anderen Gesichtspunkt bedroht, überschreite eine Versammlungsbeschränkung nicht nur die einfachgesetzliche Ermächtigung in § 15 Abs. 1 VersG, sondern verstoße zugleich gegen das Grundrecht der Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG).

Störungen des sittlichen Empfindens der Bürger ohne Provokationscharakter oder Störungen, die, obgleich provokativen Charakters, kein erhebliches Gewicht aufwiesen, ergäben als solche keinen verhältnismäßigen Anlass für eine Einschränkung der Versammlungsfreiheit. Der Umstand alleine, dass eine rechtsextremistische Gruppierung am Holocaust-Gedenktag eine Versammlung durchführe, könne daher nicht in grundrechtlich tragfähiger Weise für eine Versammlungsbeschränkung gemäß § 15 Abs. 1 VersG herangezogen werden, auch wenn die Wahl gerade dieses Tages als Versammlungstermin einer solchen Gruppierung von vielen Bürgern in tatsächlicher Hinsicht als unpassend und mit dem Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus nicht im Einklang stehend wahrgenommen werde.

Sähe der Gesetzgeber weitergehend ein Bedürfnis, mit Blick auf die besondere staatspolitische Bedeutung des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus Versammlungsbeschränkungen an diesem Tag – losgelöst von der Frage einer Gefährdung des sittlichen Empfindens der Bürger im Einzelfall – zuzulassen, müsste er hierzu eigens nicht auf bestimmte Veranstalter beschränkte Regelungen treffen, so das BVerwG.

Anwendung des Maßstabs – keine Provokation

Die vorbezeichnete Schwelle wäre nach Ansicht des BVerwG durch die beabsichtigte Versammlung nicht erreicht worden: Die Versammlung habe in Anknüpfung an eine andere Veranstaltung mit der Euro- und Finanzkrise ein aktuelles allgemein-politisches Thema aufgreifen und die hierzu entwickelten, bereits bei früheren Gelegenheiten vorgetragenen programmatischen Vorstellungen der Klägerin kundtun sollen. Eine Stoßrichtung gegen das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus ginge von diesem Thema nicht aus. Eine unmittelbare Störung von Gedenkveranstaltungen sei nicht zu befürchten gewesen oder hätte jedenfalls durch das mildere Mittel einer geringfügigen zeitlichen Verlegung um eine halbe Stunde abgewendet werden können. Dass die Versammlung ihrem vorgesehenen äußeren Gepräge nach eine Stoßrichtung gegen das Gedenken hätte gewinnen können, sei ebenso nicht ersichtlich.

Provokative Motivlage des Versammlungsveranstalters

Das OVG war zu der Einschätzung gelangt, es sei der Klägerin in Wahrheit nicht auf die Kundgabe ihrer wirtschafts- und währungspolitischen Positionen, sondern ausschließlich um eine – von ihr dem Gedenkanliegen demonstrativ entgegengesetzte – öffentliche Präsenz am Holocaust-Gedenktag gegangen („Flagge zeigen“), die von den übrigen Bürgern vor dem besonderen Hintergrund dieses Tages als erhebliche Provokation empfunden worden wäre und so seitens der Klägerin auch gemeint gewesen sei.

Hierzu stellt das BVerwG fest:

„Selbst wenn diese Einschätzung der Motivlage der Klägerin zutreffend wäre, muss sich dieser Ansatz dem Einwand ausgesetzt sehen, dass er dem Grundrechtsträger letzten Endes abverlangt, die Plausibilität der von ihm getroffenen Wahl des Versammlungsdatums zu rechtfertigen, nämlich Gründe vorzuweisen, welche die Sinnhaftigkeit der Kundgebung zum ausgewählten Versammlungsthema gerade am vorgesehenen Tag belegen. Eine solche Maßgabe würde die Versammlungsfreiheit, die auch die freie Selbstbestimmung über den Versammlungszeitpunkt einschließt […], in unverhältnismäßiger Weise beschränken. Für den Grundrechtsträger besteht keine Obliegenheit, für die Bestimmung des Versammlungszeitpunkts Gründe zu liefern. Sind solche Gründe für die Versammlungsbehörde oder nach deren Einschätzung aus Sicht der Mitbürger nicht erkennbar bzw. nicht nachvollziehbar, reicht die hieraus hergeleitete Wahrnehmung, der Grundrechtsträger suche die Präsenz lediglich um ihrer selbst willen, grundsätzlich nicht für die Anordnung einer Versammlungsbeschränkung am Holocaust-Gedenktag mit der Begründung aus, von der Versammlung würden Provokationen ausgehen, die das sittliche Empfinden der Bürger erheblich beeinträchtigen. Die öffentliche Präsenz einer bestimmten Gruppierung am 27. Januar verleiht für sich genommen ihrer Versammlung noch keine eindeutige Stoßrichtung gegen das Gedenken, dem dieser Tag gewidmet ist. Die gegenteilige Sichtweise läuft darauf hinaus, die Anforderung einer personen- bzw. gruppenneutralen Begründung für Beschränkungen der Versammlungsfreiheit zu verfehlen.“

Das BVerwG schließt zwar nicht aus, dass ausnahmsweise Konstellationen vorkommen könnten, in denen die spezifische Kombination von Versammlungszeitpunkt, Zuschnitt des Versammlungsthemas und gegebenenfalls weiteren Faktoren nichts anderes als den Schluss zulasse, die Versammlung weise – zwar in unterschwelliger, nichtsdestoweniger aber eindeutiger Weise – eine Stoßrichtung gegen das Gedenken auf (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 26. Januar 2001 – 1 BvQ 9/01 – juris und den dort zugrunde liegenden Sachverhalt).

Im vorliegenden Fall jedoch erübrigten sich weitere Überlegungen in diese Richtung schon deshalb, weil die Einschätzung des OVG, das von der Klägerin angegebene Versammlungsthema sei nur vorgeschoben gewesen, bereits nicht auf zureichende tatsächliche Anhaltspunkte gestützt sei:

Mit der genannten Einschätzung werde der Klägerin der Wille abgesprochen, das vorgebrachte Artikulationsanliegen überhaupt ernsthaft verfolgt zu haben. Das durch Art. 8 Abs. 1 GG geschützte Selbstbestimmungsrecht über den Inhalt der Versammlung schließe aber – vorgelagert – den Anspruch ein, dass der Staat das vom Grundrechtsträger proklamierte Artikulationsanliegen grundsätzlich als tatsächlich gegeben hinnimmt und nicht ohne Weiteres gegen seine inneren Motive abgleicht. Ein Durchgriff auf eine vermeintlich bestehende innere Motivlage zur Rechtfertigung einer Versammlungsbeschränkung dürfe nur ausnahmsweise und mit besonderer Zurückhaltung erfolgen. Hierfür müssten konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte und nicht nur bloße Vermutungen und Verdachtsmomente vorliegen. Erforderlich ist darüber hinaus, dass eine Auseinandersetzung mit Gegenindizien vorgenommen wird.

Diesen Vorgaben genüge das angefochtene Urteil nicht. Weder der Umstand, dass die Finanz- und Eurokrise schon seit längerem im Augenmerk der öffentlichen Wahrnehmung stand, noch der Umstand, dass keine konkreteren inhaltlichen Bezüge der vorgesehenen Versammlung oder des wirtschaftspolitischen Programms der Klägerin zu den wirtschaftspolitischen Vorstellungen von Prof. O. erkennbar geworden sind, belegten in hinreichender Weise, dass die Klägerin dessen Vortrag lediglich als „Aufhänger“ gewählt hätte, um an dem fraglichen Tag in plausibler Weise überhaupt eine Versammlung durchführen zu können. Auch im Hinblick auf politische Themen mit dauerhafter Aktualität entspricht es verbreiteter politischer Übung, für die Darstellung eigener Positionen einen Termin zu wählen, an dem das Thema von anderen Meinungsbildnern öffentlich angesprochen wird und daher spezifisch in das Augenmerk der Öffentlichkeit rückt; dabei ist es wiederum keineswegs unüblich, im Rahmen der eigenen Darstellung nicht unmittelbar auf die Inhalte und Thesen der Referenzveranstaltung einzugehen, sondern sich mit der Kundgabe eigener Positionen zu begnügen. Unverfänglich sei darüber hinaus auch der Umstand, dass die Klägerin eine Versammlung zu Währungs- und Finanzfragen bereits fünf Tage vorher durchgeführt habe. Diese Veranstaltungsfrequenz könne ebenso gut als Ausdruck eines besonders ausgeprägten Artikulationsinteresses gewertet werden, wie es gerade für eine politische Partei nicht ungewöhnlich sei. Soweit das OVG schließlich Muster der Versammlungspraxis der Klägerin nach dem Erlass der streitigen Anordnung angeführt habe, stehe ihrer Einbeziehung in die rechtliche Würdigung schon die gesetzliche Vorgabe aus § 15 VersG entgegen, dass nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet sein müsse. Das Prozessrecht biete keine Handhabe, im Rahmen der nachträglichen rechtlichen Beurteilung einen anderen Blickwinkel auf den betroffenen Sachverhalt anzulegen.

Nach alledem erweise sich die Einschätzung, der Klägerin sei es in Wahrheit darauf angekommen, am Holocaust-Gedenktag demonstrative öffentliche Präsenz zu zeigen, als bloße Vermutung, so das BVerwG. Auf bloße Vermutungen dürfe eine versammlungsrechtliche Beschränkung aber von vornherein nicht gegründet werden. Die Beweislast dafür, dass die tatsächliche Sachlage der Vermutung entspricht, liege bei der Versammlungsbehörde. Für den Grundrechtsträger bestehe keine Obliegenheit, sich insoweit zu entlasten (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 9. Juni 2006 – 1 BvR 1429/06 – juris Rn. 15).

 

BVerwG, U. v. 26.02.2014, 6 C 1.13

Ass. iur. Klaus Kohnen; Foto: (c) pio3 – Fotolia.com

Net-Dokument BayRVR2014022601