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EuGH (Generalanwalt): Ausschluss von Unionsbürgern, die in einem anderen Mitgliedstaat Arbeit suchen, vom Bezug bestimmter Sozialleistungen zulässig

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Nach Ansicht von Generalanwalt Melchior Wathelet dürfen Unionsbürger, die sich zur Arbeitsuche in einen Mitgliedstaat begeben, deren Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, vom Bezug bestimmter Sozialleistungen ausgeschlossen werden / Wenn jedoch die betreffende Person dort bereits eine Beschäftigung ausgeübt hat, dürfen ihr derartige Leistungen nicht automatisch ohne individuelle Prüfung verweigert werden

Im Urteil Dano[1] hat der Gerichtshof unlängst entschieden, dass die Mitgliedstaaten Unionsbürger, die sich in ihr Hoheitsgebiet begeben, ohne dort Arbeit finden zu wollen, von Sozialhilfeleistungen ausschließen dürfen. In jener Rechtssache ging es um die deutschen Leistungen der Grundsicherung, die insbesondere zur Sicherung des Lebensunterhalts ihrer Empfänger dienen.

In der vorliegenden Rechtssache muss der Gerichtshof die Frage entscheiden, ob derartige Leistungen auch einem Unionsbürger verweigert werden dürfen, der auf Arbeitsuche ist, nachdem er eine Zeit lang im Aufnahmemitgliedstaat gearbeitet hat.

Frau Nazifa Alimanovic sowie ihre drei Kinder Sonita, Valentina und Valentino sind schwedische Staatsangehörige. Die drei Kinder wurden 1994, 1998 und 1999 in Deutschland geboren. Nachdem sich die Familie im Ausland aufgehalten hatte, reiste sie im Juni 2010 erneut nach Deutschland ein. Zwischen diesem Zeitpunkt und Mai 2011, also in einem Zeitraum von weniger als einem Jahr, waren Frau Alimanovic und ihre älteste Tochter Sonita in kürzeren Beschäftigungen bzw. Arbeitsgelegenheiten tätig. Seither gehen beide keiner Erwerbstätigkeit mehr nach. Für den Zeitraum vom 1. Dezember 2011 bis zum 31. Mai 2012 wurden ihnen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für erwerbsfähige Leistungsberechtigte (Arbeitslosengeld II) bewilligt, Valentina und Valentino dagegen Sozialgeld für nicht erwerbsfähige Leistungsberechtigte. Anschließend stellte die zuständige deutsche Behörde, das Jobcenter Berlin Neukölln, die Zahlung dieser Leistungen ein, weil es der Ansicht war, dass Frau Alimanovic und ihre älteste Tochter Sonita als ausländische Arbeitsuchende und infolgedessen auch Valentina und Valentino vom Bezug der betreffenden Leistungen ausgeschlossen seien. Nach den deutschen Rechtsvorschriften können nämlich Ausländer (und ihre Familienangehörigen), deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, diese Leistungen nicht beanspruchen.[2] Das mit dem darüber geführten Rechtsstreit befasste Bundessozialgericht (Deutschland) hat dem Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob dieser Ausschluss mit dem Unionsrecht vereinbar ist.

In seinen heutigen Schlussanträgen geht Generalanwalt Melchior Wathelet davon aus, dass die in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehenden Leistungen – ebenso wie in der Rechtssache Dano – (zumindest in erster Linie) die Existenzmittel gewährleisten sollen, die erforderlich sind, um ein Leben zu führen, das der Menschenwürde entspricht, und nicht (oder erst in zweiter Linie) den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen. Folglich sind diese Leistungen im Sinne der „Unionsbürgerrichtlinie[3] als Leistungen der Sozialhilfe einzustufen.[4] [5]

Die „Unionsbürgerrichtlinie“ bekräftigt das Verbot, einen Unionsbürger wegen seiner Staatsangehörigkeit zu diskriminieren, enthält aber bei Leistungen der Sozialhilfe eine Ausnahme von diesem Grundsatz. Nach dieser Richtlinie ist ein Mitgliedstaat nämlich nicht verpflichtet, während der ersten drei Monate des Aufenthalts sowie – bei Unionsbürgern, die zum Zweck der Arbeitsuche in sein Hoheitsgebiet eingereist sind – gegebenenfalls auch während des darüber hinausgehenden Zeitraums der Arbeitsuche einen Anspruch auf Sozialhilfeleistungen zu gewähren.

Nach Ansicht von Generalanwalt Wathelet muss diese Ausnahme eng ausgelegt werden, und die sich daraus ergebenden Beschränkungen müssen berechtigt sein. Der Generalanwalt schlägt vor, drei Fallgestaltungen zu unterscheiden.

Bei der ersten Fallgestaltung, bei der sich ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats begibt und sich dort (seit weniger oder seit mehr als drei Monaten) aufhält, ohne dort eine Arbeit suchen zu wollen, ist es – wie der Gerichtshof im Urteil Dano entschieden hat – berechtigt, dass der betreffende Unionsbürger von Leistungen der Sozialhilfe ausgeschlossen wird, um das finanzielle Gleichgewicht der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit zu erhalten.

Bei der zweiten Fallgestaltung, bei der sich ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats begibt, um dort Arbeit zu suchen, ist ein solcher Ausschluss aus den gleichen Gründen ebenfalls berechtigt.

Bei der dritten Fallgestaltung hingegen, bei der sich ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats mehr als drei Monate im Gebiet eines Mitgliedstaats aufhält und dort gearbeitet hat, ist der Generalanwalt der Ansicht, dass dem betreffenden Unionsbürger die in Rede stehenden Leistungen nicht automatisch verweigert werden dürfen.

Zwar kann ein Unionsbürger, der im Inland weniger als ein Jahr berufstätig war, im Einklang mit dem Unionsrecht seine Erwerbstätigeneigenschaft nach sechsmonatiger Arbeitslosigkeit verlieren (was bei Frau Alimanovic und ihrer Tochter Sonita im Dezember 2011 geschehen ist).

Jedoch verstößt es gegen den Gleichheitsgrundsatz[6], wenn ein Unionsbürger nach Ablauf eines Zeitraums der unfreiwilligen Arbeitslosigkeit von sechs Monaten im Anschluss an eine Erwerbstätigkeit von weniger als einem Jahr automatisch von Sozialhilfeleistungen wie den hier in Rede stehenden ausgeschlossen wird, ohne dass es dem betreffenden Unionsbürger erlaubt würde, das Bestehen einer tatsächlichen Verbindung mit dem Aufnahmemitgliedstaat nachzuweisen.

In dieser Hinsicht ist – neben Umständen, die sich aus dem familiären Kontext ergeben (wie der Schulausbildung der Kinder) – die effektive und tatsächliche Beschäftigungssuche während eines angemessenen Zeitraums ein Umstand, der das Bestehen einer solchen Verbindung mit dem Aufnahmemitgliedstaat belegen kann. Eine frühere Erwerbstätigkeit oder auch die Tatsache, dass der Betreffende nach Stellung des Antrags auf Sozialleistungen eine neue Arbeit gefunden hat, wäre zu diesem Zweck ebenfalls zu berücksichtigen.

Über die Fragen des Bundessozialgerichts hinaus meint Generalanwalt Wathelet, dass, wenn nachgewiesen ist, dass die Kinder Valentina und Valentino Alimanovic ihrer Schulausbildung in einer in Deutschland gelegenen Einrichtung regelmäßig nachkommen (was vom Bundessozialgericht zu überprüfen ist), diese beiden Kinder – und ihre Mutter, Nazifa Alimanovic – nach dem Unionsrecht ein Recht auf Aufenthalt im deutschen Hoheitsgebiet haben. Den Kindern eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Aufnahmemitgliedstaat erwerbstätig ist oder gewesen ist, und dem Elternteil, der die elterliche Sorge für die Kinder tatsächlich wahrnimmt, steht ein Recht auf Aufenthalt in diesem Staat nämlich allein deshalb zu, weil das Unionsrecht[7] diesen Kindern ein Recht auf Zugang zur Ausbildung verleiht. Dieses Recht ist nicht von der Erfüllung der in der „Unionsbürgerrichtlinie“ vorgesehenen Voraussetzungen (zu denen u. a. ausreichende Existenzmittel und ein umfassender Krankenversicherungsschutz gehören) abhängig. Unter diesen Bedingungen fände der von den deutschen Rechtsvorschriften vorgesehene Ausschluss von den Sozialhilfeleistungen weder auf den Fall von Frau Alimanovic noch auf den Fall ihrer zwei jüngeren Kinder Anwendung; denn diese Vorschrift gilt nur für Personen, „deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen“.

EuGH, Pressemitteilung v. 26.03.2015 zu den Schlussanträgen des Generalanwalts in der Rechtssache C-67/14 (Jobcenter Berlin Neukölln / Nazifa, Sonita, Valentina und Valentino Alimanovic)

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[1] Urteil des Gerichtshofs vom 11. November 2014, Dano (C-333/13); siehe auch die Pressemitteilung Nr. 146/14.

[2] § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 des Sozialgesetzbuchs Zweites Buch (SGB II).

[3] Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77, berichtigt in ABl. 2004, L 229, S. 35).

[4] Generalanwalt Wathelet geht außerdem davon aus, dass es sich auch um besondere beitragsunabhängige Geldleistungen im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 166, S. 1, berichtigt in ABl. 2004, L 200, S. 1) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 1244/2010 der Kommission vom 9. Dezember 2010 (ABl. L 338, S. 35) geänderten Fassung handelt.

[5] Anderenfalls müsste nach Ansicht des Generalanwalts geprüft werden, ob der streitige Leistungsausschluss mit den in den Unionsverträgen enthaltenen Bestimmungen über die Arbeitnehmerfreizügigkeit vereinbar ist. Im Rahmen einer solchen Prüfung hätten die gleichen Überlegungen zu gelten.

[6] Wie er in den Unionsverträgen verankert und durch die Verordnung Nr. 883/2004 und die Richtlinie 2004/38 ausgestaltet worden ist.

[7] Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. L 141, S. 1).