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EuGH (GA): Wohnsitzauflage für subsidiär Schutzberechtigte nur aus schwerwiegenden migrations- und integrationspolitischen Gründen zulässig

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Nach Ansicht von Generalanwalt Pedro Cruz Villalón stellt eine Auflage für subsidiär Schutzberechtigte, ihren Wohnsitz an einem bestimmten Ort zu nehmen, eine Beschränkung der Bewegungsfreiheit innerhalb eines Mitgliedstaats dar / Eine solche Beschränkung ist nur bei konkreten Sachverhalten aus schwerwiegenden migrations- und integrationspolitischen Gründen zulässig und lässt sich nicht mit Gründen der räumlichen Verteilung der Soziallasten rechtfertigen

Nach einer Richtlinie der Union[1] müssen die Mitgliedstaaten Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz – d. h. Personen, denen der Flüchtlingsstatus oder der subsidiäre Schutzstatus[2] zuerkannt wurde –, in ihrem Hoheitsgebiet Bewegungsfreiheit unter den gleichen Bedingungen und Einschränkungen gestatten wie anderen Drittstaatsangehörigen, die sich rechtmäßig in ihrem Hoheitsgebiet aufhalten.

Nach deutschem Recht[3] ist eine Aufenthaltserlaubnis, die aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen erteilt wird, mit einer wohnsitzbeschränkenden Auflage zu verbinden, wenn der Berechtigte Leistungen der sozialen Sicherung bezieht. In diesen Vorschriften wird eine solche Auflage als geeignetes Mittel angesehen, um eine überproportionale fiskalische Belastung einzelner Länder und Kommunen durch ausländische Empfänger von Sozialleistungen zu verhindern. Zugleich soll mit ihr einer Konzentrierung sozialhilfeabhängiger Ausländer in bestimmten Gebieten und der damit einhergehenden Entstehung sozialer Brennpunkte mit negativen Auswirkungen auf die Integration von Ausländern vorgebeugt und deren Integration erleichtert werden.

Herr Alo und Frau Osso sind syrische Staatsangehörige, die nach Deutschland einreisten und dort Asyl beantragten. Ihre Anträge wurden zwar abgelehnt, doch sie erhalten seit Antragstellung Sozialleistungen. Später wurde ihnen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt, und ihnen wurde infolgedessen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt, an die die Auflage geknüpft wurde, ihren Wohnsitz an einem bestimmten Ort zu nehmen. Beide klagten gegen diese Auflage. Das Bundesverwaltungsgericht, das nunmehr mit dem Rechtsstreit befasst ist, hat Zweifel, ob eine solche Wohnsitzauflage mit der Richtlinie vereinbar ist.

Die einschlägige deutsche Regelung schreibt eine solche Wohnsitzbeschränkung für Drittstaatsangehörige vor, die aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis haben und Sozialleistungen beziehen. Dies gilt sowohl für Personen mit subsidiärem Schutzstatus als auch für Flüchtlinge. Das Bundesverwaltungsgericht hat allerdings im Jahr 2008 entschieden, dass Personen, denen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, allein zum Zweck einer angemessenen räumlichen Verteilung öffentlicher Sozialhilfelasten keine solche Wohnsitzauflage erteilt werden darf. Es bezweifelt jedoch, ob dies auch für Personen mit subsidiärem Schutzstatus gelten kann. Zwar könnte eine solche Wohnsitzauflage seines Erachtens aufgrund von migrations- und integrationspolitischen Gründen auch bei Flüchtlingen gerechtfertigt sein, doch müssten die zuständigen Behörden die konkreten Gründe für eine solche Auflage angeben, so dass es nicht ausreiche, abstrakt auf sie zu verweisen.

In seinen heutigen Schlussanträgen vertritt Generalanwalt Pedro Cruz Villalón die Auffassung, dass der Begriff „Bewegungsfreiheit“ im Sinne der Richtlinie sowohl die Freiheit der Ortsveränderung als auch die freie Wohnsitzwahl umfasst. Zu diesem Ergebnis gelangt er im Anschluss an eine wörtliche, systematische, teleologische und historische Auslegung dieses Begriffs. Da der Hauptinhalt der Aufenthaltsfreiheit gerade darin besteht, frei über den Wohnort zu entscheiden, ist klar, dass die Auflage seitens eines Mitgliedstaats, den Wohnsitz in einem räumlich begrenzten Bereich zu nehmen, eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit darstellt, unabhängig davon, ob die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, über die Freiheit verfügt, sich im gesamten Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats frei zu bewegen und aufzuhalten.

Die beiden in den deutschen Rechtsvorschriften zur Rechtfertigung der Wohnsitzauflage ausdrücklich angeführten Ziele – die überproportionale fiskalische Belastung einzelner Länder und Kommunen zu verhindern und der sozialen Ausgrenzung mit ihren negativen Auswirkungen auf die Integration vorzubeugen – stellen nach Ansicht des Generalanwalts als solche legitime Ziele dar. Gleichwohl muss geprüft werden, ob die daraus resultierende Ungleichbehandlung von Flüchtlingen und Personen, denen subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist, einerseits sowie von Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, und anderen Drittstaatsangehörigen andererseits in angemessenem Verhältnis zu diesen Zielen steht.

Zum erstgenannten Fall ist der Generalanwalt der Ansicht, dass es nicht den Anforderungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit entspricht, wenn Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte – die alle Sozialleistungen beziehen – insofern unterschiedlich behandelt werden, als Letzteren eine mit dem Ziel einer gleichmäßigen räumlichen Verteilung der Sozialhilfelasten gerechtfertigte Wohnsitzauflage erteilt wird. Da es möglich ist, Mechanismen zur Umverteilung und zum räumlichen Ausgleich der Haushaltsungleichgewichte zu schaffen, erscheint die Annahme nicht sehr gewagt, dass es Maßnahmen gibt, die das Recht auf Freizügigkeit in geringerem Maß einschränken. Zudem ist nicht dargetan worden, inwiefern das richtige Gleichgewicht bei der räumlichen Verteilung der Sozialhilfelasten durch die Wohnsitzauflage erreicht werden kann, wenn sie nur Personen, denen subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist, und nicht Flüchtlingen auferlegt wird. Hinzu kommt der ausdrückliche Wille des Unionsgesetzgebers, den Status beider Kategorien von Schutzberechtigten einander weiter anzugleichen. Daher verstößt eine auf diese Rechtfertigung gestützte Wohnsitzauflage gegen die Richtlinie.

Hinsichtlich der Rechtfertigung mit migrations- oder integrationspolitischen Gründen ist Generalanwalt Cruz Villalón der Auffassung, dass die Wohnsitzauflage nur dann mit der Richtlinie vereinbar ist, wenn diese Gründe hinreichend schwerwiegend sind und an konkrete Sachverhalte anknüpfen. Denn eine solche Auflage kann zwar den migrations- und integrationspolitischen Erfordernissen angemessen sein, weil es schwierig erscheint, eine Konzentration international schutzberechtigter Personen durch weniger restriktive Maßnahmen zu verhindern, doch wird das Bundesverwaltungsgericht prüfen müssen, ob andere Maßnahmen wie eine Verteilungspolitik beim Zugang zu Wohnraum, erfolgversprechend sind. Jedenfalls reichen abstrakte, an migrations- und integrationspolitische Erwägungen anknüpfende Gründe nicht aus, sondern die Beschränkung muss auf gewichtigen, an konkrete migrations- und integrationspolitische Erwägungen anknüpfenden Gründen beruhen (z. B. in Fällen eindeutiger sozialer Spannungen, bei denen die öffentliche Ordnung durch die Konzentration einer erheblichen Zahl international Schutzberechtigter, die Sozialleistungen beziehen, beeinträchtigt wird). Außerdem müssen die zeitliche Dauer und der räumliche Geltungsbereich der Wohnsitzauflage berücksichtigt werden. Darüber hinaus darf die nationale Rechtsordnung in ihrer Gesamtheit den Anwendungsbereich dieser Auflage nicht ausschließlich auf Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, beschränken. 

EuGH, Pressemitteilung v. 06.10.2015 zu den Schlussanträgen des Generalanwalts v. 06.10.2015 in den verbundenen Rechtssachen C-443/14, Alo, und C-444/14, Osso

Redaktionelle Hinweise

Die Überschrift wurde redaktionell formuliert.

Zu Gerichtsentscheidungen im Bereich des Ausländer- und Asylrechts vgl. die entsprechende Rubrik.

Allgemein zu Entwicklungen im Bereich „Ausländer/Asyl“ vgl. hier.

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[1] Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337, S. 9).

[2] Der Ausdruck „Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz“ bezeichnet einen Drittstaatsangehörigen oder einen Staatenlosen, der die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht erfüllt, aber stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland oder, im Fall eines Staatenlosen, in das Land seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, und der den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Gefahr nicht in Anspruch nehmen will.

[3] Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet.