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EuGH: Das Unionsrecht gestattet die Inhaftierung eines Asylbewerbers aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung

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Die Stellung eines erneuten Asylantrags durch eine Person, gegen die eine Rückkehrentscheidung ergangen ist, macht diese Entscheidung nicht hinfällig

Im Jahr 1995 stellte J. N. in den Niederlanden einen ersten Asylantrag, der im Jahr 1996 abgelehnt wurde. In den Jahren 2012 und 2013 stellte J. N. erneute Asylanträge. Im Jahr 2014 lehnte der Staatssekretär den letzten dieser Anträge ab, ordnete an, dass J. N. die Europäische Union unverzüglich verlassen muss, und verhängte ein Einreiseverbot für die Dauer von zehn Jahren. Die dagegen erhobene Klage wurde rechtskräftig abgewiesen.

Von 1999 bis 2015 wurde J. N. in 21 Fällen wegen verschiedener Straftaten (hauptsächlich Diebstähle) zu Geldstrafen und Freiheitsstrafen verurteilt. Zuletzt wurde er im Jahr 2015  wegen eines Diebstahls und der Missachtung des gegen ihn verhängten Einreiseverbots festgenommen. Er wurde erneut zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und nach deren Verbüßung als Asylbewerber inhaftiert. Während der Verbüßung der Freiheitsstrafe hatte er nämlich einen vierten Asylantrag gestellt.

In diesem Kontext hat der mit einer Klage von J. N. befasste Raad van State (Staatsrat, Niederlande) dem Gerichtshof eine Frage vorgelegt. Er nimmt insbesondere auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu der Frage Bezug, in welchen Fällen die Inhaftierung eines Asylbewerbers angeordnet werden kann. Er fragt unter diesen Umständen nach der Gültigkeit der Richtlinie 2013/33, nach der ein Asylbewerber inhaftiert werden kann, wenn dies aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung erforderlich ist[1].

Der Gerichtshof hat heute sein Urteil im Rahmen eines Eilvorabentscheidungsverfahrens erlassen. Er stellt zunächst fest, dass die in der Richtlinie vorgesehene Inhaftierung einer von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung tatsächlich entspricht. Er weist darauf hin, dass der Schutz der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung auch zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer beiträgt. Nach der Grundrechtecharta der EU hat jeder Mensch nicht nur das Recht auf Freiheit, sondern auch auf Sicherheit.

Der Gerichtshof prüft sodann, ob der Unionsgesetzgeber innerhalb der Grenzen dessen geblieben ist, was zur Erreichung der zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist, und ob er einen angemessenen Ausgleich zwischen dem Recht auf Freiheit des Asylbewerbers und den mit dem Schutz der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung verbundenen Erfordernissen gewahrt hat.

Angesichts der Bedeutung des Rechts auf Freiheit und der Schwere des in einer Inhaftierung bestehenden Eingriffs hebt der Gerichtshof hervor, dass sich die Einschränkungen der Ausübung dieses Rechts auf das absolut Notwendige beschränken müssen.

Der Gerichtshof stellt fest, dass ein Asylbewerber nur unter Beachtung einer Reihe von Voraussetzungen inhaftiert werden darf, die u. a. die Dauer der Inhaftierung betreffen (die so kurz wie möglich sein muss).

Er fügt hinzu, dass der enge Rahmen für die den zuständigen nationalen Behörden in diesem Kontext zuerkannte Befugnis auch durch die Auslegung der Begriffe „nationale Sicherheit“ und „öffentliche Ordnung“ gewährleistet wird.

So hat der Gerichtshof entschieden, dass der Begriff der öffentlichen Ordnung jedenfalls voraussetzt, dass außer der sozialen Störung, die jeder Gesetzesverstoß darstellt, eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.

Zum Begriff der öffentlichen Sicherheit geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass er sowohl die innere als auch die äußere Sicherheit eines Mitgliedstaats umfasst. Infolgedessen können die Beeinträchtigung des Funktionierens der Einrichtungen des Staates und seiner wichtigen öffentlichen Dienste sowie das Überleben der Bevölkerung ebenso wie die Gefahr einer erheblichen Störung der auswärtigen Beziehungen oder des friedlichen Zusammenlebens der Völker oder eine Beeinträchtigung der militärischen Interessen die öffentliche Sicherheit berühren.

Der Raad van State hat dem Gerichtshof mitgeteilt, dass nach seiner Rechtsprechung die Stellung eines Asylantrags durch eine Person, die von einem Rückführungsverfahren betroffen sei, zur Folge habe, dass eine frühere Rückkehrentscheidung hinfällig werde. Hierzu hebt der Gerichtshof hervor, dass die praktische Wirksamkeit der Richtlinie 2008/115[2] jedenfalls verlangt, dass ein eingeleitetes Verfahren, das zu einer Rückkehrentscheidung, gegebenenfalls verbunden mit einem Einreiseverbot, geführt hat, in dem Stadium, in dem es wegen der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz unterbrochen wurde, wieder aufgenommen werden kann, wenn der Antrag erstinstanzlich abgelehnt wurde. Die Mitgliedstaaten sind nämlich verpflichtet, das mit der Richtlinie 2008/115 verfolgte Ziel der Schaffung einer wirksamen Rückkehr- und Rückübernahmepolitik in Bezug auf illegal aufhältige Drittstaatsangehörige nicht zu gefährden.

Der Gerichtshof weist ferner darauf hin, dass sich aus der Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten sowie den Anforderungen an die Wirksamkeit ergibt, dass die den Mitgliedstaaten auferlegte Pflicht, in den in der Richtlinie genannten Fällen die Abschiebung vorzunehmen, innerhalb kürzester Frist zu erfüllen ist. Dieser Pflicht würde nicht genügt, wenn die Umsetzung einer Rückkehrentscheidung dadurch verzögert würde, dass nach der erstinstanzlichen Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz das Verfahren nicht in dem Stadium wieder aufgenommen werden könnte, in dem es unterbrochen wurde, sondern von vorne beginnen müsste.

Der Gerichtshof führt schließlich aus, dass die den Mitgliedstaaten durch die Richtlinie 2013/33 eingeräumte Befugnis, Personen aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung zu inhaftieren, nicht gegen das Schutzniveau der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)[3] verstößt, die die Inhaftierung einer Person gestattet, gegen die ein Ausweisungsverfahren „im Gange“ ist.

Im Ergebnis stellt der Gerichtshof fest, dass die Gültigkeit der Richtlinie 2013/33 durch die Gestattung solcher Inhaftierungsmaßnahmen, deren Umfang aufgrund der Erfordernisse der Verhältnismäßigkeit eng begrenzt ist, nicht in Frage gestellt wird.

EuGH, Pressemitteilung v. 15.02.2016 zum U. v. 15.02.2016, Rs. C-601/15 PPU (J. N. / Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie)

Redaktioneller Hinweis: Zur Rechtsentwicklung im Kontext „Ausländer- und Asylrecht“ vgl. hier.

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[1] Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. L 180, S. 96)

[2] Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98).

[3] Art. 5 Abs. 1 Buchst. f zweiter Satzteil der EMRK.