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BayVerfGH: Sog. 10 H-Regelung für Windkraftanlagen im Wesentlichen mit der Bayerischen Verfassung vereinbar

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Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs vom 9. Mai 2016 über eine Popularklage und zwei von den Oppositionsfraktionen im Bayerischen Landtag eingeleitete Meinungsverschiedenheiten zur Frage, ob die sog. 10 H-Regelung für Windkraftanlagen die Bayerische Verfassung verletzt

I.

Vorhaben, die der Erforschung, Entwicklung oder Nutzung der Windenergie dienen, zählen zu den Vorhaben, die nach § 35 Abs. 1 Nr. 5 Baugesetzbuch (BauGB) im Außenbereich privilegiert zulässig sind. In diesem Zusammenhang wurde durch Bundesgesetz vom 15. Juli 2014 § 249 Abs. 3 in das Baugesetzbuch eingefügt. Diese Vorschrift ermächtigt die Länder, durch Landesgesetze zu bestimmen, dass die Privilegierung im Außenbereich nur gilt, wenn die Windkraftanlage einen bestimmten Abstand zu Gebäuden einhält. Der bayerische Landesgesetzgeber hat von der Länderöffnungsklausel durch Gesetz vom 17. November 2014 (GVBl S. 478) Gebrauch gemacht. Er hat in der Bayerischen Bauordnung (BayBO) geregelt, dass Windkraftanlagen im Außenbereich nur privilegiert sind, wenn sie einen Mindestabstand vom 10-fachen ihrer Höhe zu Wohngebäuden einhalten. Gegenstand der Verfahren beim Bayerischen Verfassungsgerichtshof ist die Frage, ob diese Regelung mit der Bayerischen Verfassung (BV) vereinbar ist.

II.

1. Die Antragsteller machen insbesondere geltend, der bayerische Landesgesetzgeber habe die ihm eröffnete Kompetenz offensichtlich überdehnt. Nach dem heutigen Stand der Technik erreichten gängige Windkraftanlagen eine Gesamthöhe von etwa 200 m. Bei einem Mindestabstand der 10-fachen Höhe, also 2.000 m, reduziere sich die für Windkraftanlagen zur Verfügung stehende Fläche auf 0,05 % der Gesamtfläche Bayerns. Berücksichtige man, dass diese abstrakt zur Verfügung stehende Fläche nicht immer ausreichend windhöffig sei oder öffentliche Belange einer Windkraftanlage entgegenstünden, verbleibe nur noch ca. 0,01 % der Landesfläche. Diese nahezu vollständige Entprivilegierung von Windkraftanlagen sei von der Öffnungsklausel des § 249 Abs. 3 Baugesetzbuch eindeutig nicht gedeckt und verstoße daher u. a. gegen das Rechtsstaatsprinzip. Verfassungsrechtliche Bedenken bestünden auch, soweit Widerspruchs- und Kooperationsrechte der Nachbargemeinden geregelt seien. Insoweit habe der Landesgesetzgeber das Selbstverwaltungsrecht der planenden Gemeinden verletzt.

2. Der Bayerische Landtag, die CSU-Fraktion und die Bayerische Staatsregierung treten dieser Argumentation entgegen. Die angegriffenen Bestimmungen bewirkten keine vollständige Entprivilegierung, sondern eine abstandsbezogene Einschränkung. Für die Windenergienutzung in Bayern verbleibe auch weiterhin ausreichend Raum.

III.

Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hat am 9. Mai 2016 entschieden, dass die sog. 10 H-Regelung für Windkraftanlagen im Wesentlichen mit der Bayerischen Verfassung vereinbar ist; lediglich Art. 82 Abs. 5 BayBO wurde beanstandet:

1. Der in Art. 82 Abs. 1 und 2 BayBO geregelte höhenbezogene Mindestabstand für Windkraftanlagen als Voraussetzung für die bauplanungsrechtliche Privilegierung im Außenbereich ist mit der Bayerischen Verfassung vereinbar. Ebenfalls verfassungsgemäß sind die Übergangsbestimmung des Art. 83 Abs. 1 BayBO, die Sonderregelung in Art. 82 Abs. 3 BayBO für gemeindefreie Gebiete, die Bestandsschutzregelung des Art. 82 Abs. 4 BayBO für vorhandene Flächennutzungspläne und das Unterlassen einer vergleichbaren Bestimmung für Regionalpläne.

a) Die dem Landesgesetzgeber durch die Öffnungsklausel in 249 Abs. 3 BauGB eingeräumte Gesetzgebungsbefugnis zur Bestimmung eines Mindestabstands ist nicht unbegrenzt. Die bundesrechtliche Grundentscheidung für eine Privilegierung von Windenergieanlagen im Außenbereich darf durch eine landesrechtliche Abstandsregelung weder rechtlich noch faktisch ausgehebelt werden. Die durch den bayerischen Landesgesetzgeber normierte Festlegung des Mindestabstands zu allgemein zulässigen Wohngebäuden auf die 10-fache Anlagenhöhe überschreitet den bundesrechtlich eröffneten Gestaltungsrahmen nicht; zwar wird der räumliche Anwendungsbereich für den Privilegierungstatbestand erheblich eingeschränkt, nicht aber beseitigt. Grundrechte der Bayerischen Verfassung werden hierdurch ebenfalls nicht verletzt.

b) Die Regelung des 82 Abs. 4 BayBO für vorhandene Darstellungen von Konzentrationszonen für Windkraftanlagen in Flächennutzungsplänen berührt auch insoweit nicht den Schutzbereich des gemeindlichen Selbstverwaltungsrechts (Art. 11 Abs. 2 Satz 2 BV), als sie „Bestandsschutz“ nur unter der Voraussetzung vorsieht, dass eine betroffene Nachbargemeinde der Fortgeltung der Darstellung bis zum 21. Mai 2015 nicht widerspricht.

2. Verfassungswidrig ist die in Art. 82 Abs. 5 BayBO den Gemeinden auferlegte Pflicht, bei der Aufstellung von Bauleitplänen, die für Vorhaben der Windenergienutzung einen geringeren als den Mindestabstand festsetzen wollen, im Rahmen der Abwägung nach § 1 Abs. 7 BauGB auf eine einvernehmliche Festlegung mit betroffenen Nachbargemeinden hinzuwirken. Diese Regelung steht in einem offensichtlichen und schwerwiegenden Widerspruch zur Kompetenzordnung des Grundgesetzes und verstößt deshalb gegen das Rechtsstaatsprinzip der Bayerischen Verfassung.

Zu der Entscheidung im Einzelnen

1. Die Grundregelung des Art. 82 Abs. 1 und 2 BayBO sowie die Übergangsbestimmung des Art. 83 Abs. 1 BayBO zur Einführung eines höhenbezogenen Mindestabstands für Windkraftanlagen als Voraussetzung für die bauplanungsrechtliche Privilegierung im Außenbereich sind mit der Bayerischen Verfassung vereinbar.

a) Das Rechtsstaatsprinzip des 3 Abs. 1 Satz 1 BV ist nicht wegen eines Widerspruchs dieser Vorschriften zur Kompetenzordnung des Grundgesetzes verletzt.

aa) Mit Bundesgesetz vom 15. Juli 2014 wurde 249 Abs. 3 in das Baugesetzbuch eingefügt. Diese Öffnungsklausel ermächtigt die Länder, den Privilegierungstatbestand des § 35 Abs. 1 Nr. 5 BauGB für Windenergieanlagen im Außenbereich durch Festlegung von Mindestabständen insbesondere zu Wohnbebauung einzuschränken. Grundsätzlich hat der Bundesgesetzgeber den Privilegierungstatbestand jedoch beibehalten. Der Landesgesetzgeber ist deshalb gehindert, einen so hohen Mindestabstand festzulegen, dasspraktisch keine Flächen für die Anwendung des § 35 Abs. 1 Nr. 5 BauGB zugunsten von Windenergieanlagen verbleiben.

bb) Durch die Festlegung des Mindestabstands auf die 10-fache Anlagenhöhe wird der räumliche Anwendungsbereich für den Privilegierungstatbestand zwar erheblich eingeschränkt, nicht aber beseitigt. Die verbleibende Fläche für die Anwendung des Privilegierungstatbestands fällt umso größer aus, je niedriger die Windkraftanlage ist. Nach einer Untersuchung des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung für Bayern kommt beispielsweise ein Anteil von ca. 4 % der Landesfläche für die Errichtung von Windkraftanlagen in Betracht, wenn man eine Höhe von 150 m und damit einen Abstand von 1.500 m zu geschützten Wohngebäuden zugrunde legt. Zwar mag eine Gesamthöhe von 200 m nach dem heutigen Stand der Technik üblich sein, um eine Anlage bei durchschnittlichen Windverhältnissen möglichst rentabel zu betreiben. Abzustellen ist indes nicht auf die bestmögliche Ausnutzung der technischen Möglichkeiten. Für die Frage, ob der Privilegierungstatbestand des 35 Abs. 1 Nr. 5 BauGB durch die landesrechtliche Abstandsregelung ganz oder nahezu vollständig ausgeschlossen wird, kommt es allein darauf an, ob ein sinnvoller Anwendungsbereich verbleibt. Dabei können Windkraftanlagen niedrigerer Höhe nicht außer Betracht bleiben, auch wenn diese gegenwärtig, zumal mit Blick auf die Absenkung der finanziellen Förderung durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz 2014, weniger rentabel sein mögen.

Selbst wenn man aber davon ausgeht, dass moderne Windkraftanlagen eine Höhe von 200 m erreichen und dementsprechend einen Mindestabstand von 2.000 m zu geschützten Wohngebäuden einhalten müssen, verbleibt eine Restfläche von 1,7 % der Landesfläche. Hinzu kommen diejenigen Außenbereichsflächen, die zwar innerhalb des Mindestabstands liegen, auf welchen die Abstandsregelung aber wegen der Bestandsschutzregelung des Art. 82 Abs. 4 BayBO für bestehende Konzentrationszonen keine Anwendung findet.

Die demnach in ausreichendem Umfang verbleibenden „Bruttoflächen“ für eine privilegierte Zulassung von Windkraftanlagen im Außenbereich verringern sich freilich erheblich, wenn von ihnen diejenigen Bereiche abgezogen werden, in denen Windenergieanlagen trotz ihrer Privilegierung rechtlich – aus anderen Gründen als dem fehlenden Abstand – nicht zugelassen oder aus tatsächlichen Gründen nicht sinnvoll betrieben werden können. Es ist indes für die Frage der Vereinbarkeit von Art. 82 Abs. 1 und 2 BayBO mit Bundesrecht unerheblich, dass Vorhaben im Anwendungsbereich des § 35 Abs. 1 Nr. 5 BauGB an anderen Hindernissen rechtlicher oder tatsächlicher Art scheitern können. Für den Landesgesetzgeber ergibt sich aus der bundesrechtlichen Öffnungsklausel nicht die Verpflichtung, die in Betracht kommenden Außenbereichsflächen in Bayern wie ein Planungsträger im Rahmen von § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB auf ihre Eignung für Windenergienutzung zu bewerten und nach einer Abwägung als Planergebnis den Mindestabstand so festzulegen, dass der Windenergie substanziell Raum verschafft wird.

b) Ebenso wenig sind sonstige Vorschriften der Bayerischen Verfassung verletzt.

aa) Mit der Abstandsregelung verfolgt der Gesetzgeber das Ziel, die Akzeptanz von Windkraftanlagen in der Bevölkerung im Zusammenhang mit der Energiewende und dem dadurch erforderlichen Ausbau der erneuerbaren Energien zu fördern. Die Beschränkung der Bebaubarkeit mit Windkraftanlagen hält sich im Rahmen zulässiger Sozialbindung. Durch sie wird weder die Verfügungsbefugnis angetastet noch die Privatnützigkeit des Eigentums infrage gestellt, zumal alle anderen durch 35 BauGB eröffneten Nutzungsmöglichkeiten im Außenbereich unberührt bleiben. Ein Eigentümer muss es grundsätzlich hinnehmen, dass ihm eine möglicherweise rentablere Nutzung seines Grundstücks verwehrt wird. Art. 103 Abs. 1 BV schützt nicht die einträglichste Nutzung des Eigentums.

bb) Dass die Abstandsregelung nur für Windenergieanlagen, nicht aber für andere bauliche Vorhaben gilt und aufgrund der beschränkten Kompetenzübertragung in 249 Abs. 3 BauGB nicht gelten darf, verletzt nicht den Gleichheitssatz (Art. 118 Abs. 1 BV). Diese unterschiedliche Behandlung rechtfertigt sich aus den baulichen Besonderheiten dieser Anlagen und dem daraus resultierenden spezifischen Störpotenzial. Es stellt ferner keinen Gleichheitsverstoß dar, dass der Mindestabstand gegenüber der geschützten Wohnbebauung in sämtlichen Baugebieten, in denen Wohngebäude nicht nur ausnahmsweise zulässig sind, einheitlich auf das 10-fache der Anlagenhöhe festgelegt ist.

cc) Die Abstandsregelung ist mit dem Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden ( 11 Abs. 2 Satz 2 BV) vereinbar. Den Gemeinden verbleibt weiterhin uneingeschränkt die Möglichkeit, durch eine entsprechende Bauleitplanung nach den allgemeinen Regelungen Baurechte für Windenergieanlagen unabhängig von den Vorgaben des Art. 82 Abs. 1 und 2 BayBO, d. h. auch innerhalb des Abstands, zu schaffen.

2. Die Sonderregelung des Art. 82 Abs. 3 BayBO für gemeindefreie Gebiete ist ebenfalls verfassungsgemäß. Der Landesgesetzgeber kann die Entscheidung über die Abweichung von der Abstandsregelung im Einzelfall ohne besondere materielle Vorgaben der Nachbargemeinde übertragen, auf deren Gebiet sich die innerhalb des Mindestabstands gelegenen und durch Art. 82 Abs. 1 und 2 BayBO geschützten Wohngebäude befinden.

3. Die Bestandsschutzregelung des Art. 82 Abs. 4 BayBO für vorhandene Flächennutzungspläne, die Konzentrationszonen für Windkraftanlagen enthalten, ist mit der Bayerischen Verfassung vereinbar. § 249 Abs. 3 Satz 3 BauGB verbietet den Ländern nicht, die Entscheidung über die Fortgeltung der Konzentrationsflächenplanung im Einzelfall der planenden Gemeinde und den betroffenen Nachbargemeinden zu überlassen. Zwar stehen die in Art. 82 Abs. 4 Nrn. 2 und 3 BayBO normierten Voraussetzungen für einen „Bestandsschutz“ in einem gewissen Spannungsverhältnis zu den bundesrechtlichen Vorschriften über die Bauleitplanung. Auch wenn dem Widerspruch der planenden Gemeinde oder einer betroffenen Nachbargemeinde der Sache nach bauleitplanerischer Charakter zukommt, regelt Art. 82 Abs. 4 BayBO seiner Rechtsfolge nach jedoch nicht die Bauleitplanung als solche, sondern ausschließlich die Auswirkungen der Abstandsregelung und der damit einhergehenden Entprivilegierung von Windkraftanlagen auf vorhandene Flächennutzungspläne.

4. Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber keine der Rechtslage bei Flächennutzungsplänen vergleichbare Regelung zu den Auswirkungen des festgelegten Abstands auf vorhandene Raumordnungspläne getroffen hat. Die ungleiche Behandlung rechtfertigt sich bereits aus den unterschiedlichen Ebenen, denen die jeweiligen Planungen zuzuordnen sind.

5. Art. 82 Abs. 5 BayBO verletzt demgegenüber das Rechtsstaatsprinzip.

Nach dieser Vorschrift haben Gemeinden bei der Aufstellung von Bauleitplänen, die für Windkraftanlagen einen geringeren als den in Art. 82 Abs. 1 BayBO festgelegten Mindestabstand festsetzen wollen, im Rahmen der Abwägung nach § 1 Abs. 7 BauGB auf eine einvernehmliche Festlegung mit betroffenen Nachbargemeinden hinzuwirken. Diese Regelung überschreitet die den Ländern durch § 249 Abs. 3 BauGB übertragene Gesetzgebungsbefugnis in offenkundiger und schwerwiegender Weise. Der Bund hat den Ländern lediglich die Möglichkeit eröffnet, den bundesrechtlichen Privilegierungstatbestand des § 35 Abs. 1 Nr. 5 BauGB für Windenergieanlagen im Außenbereich durch landesrechtliche Festlegung von Mindestabständen einzuschränken. Art. 82 Abs. 5 BayBO regelt indes weder die Einzelheiten des Mindestabstands als Voraussetzung für die privilegierte Zulassung im Außenbereich noch die Auswirkungen der festgelegten Abstände auf Ausweisungen in geltenden Flächennutzungsplänen und Raumordnungsplänen oder einen Annex hierzu. Er betrifft vielmehr die künftige gemeindliche Bauleitplanung. Hinzu kommt, dass das in Art. 82 Abs. 5 BayBO der Sache nach enthaltene Gebot der interkommunalen Abstimmung bundesrechtlich in § 2 Abs. 2 BauGB abschließend geregelt ist.

Die Nichtigkeit des Art. 82 Abs. 5 BayBO führt nicht zur Nichtigkeit der übrigen in Streit stehenden Vorschriften. Denn er ist nach seinem objektiven Gehalt mit diesen nicht zu einer untrennbaren Gesamtregelung verbunden, die ihren Sinn und ihre Rechtfertigung verliert, wenn man einzelne Bestandteile herausnimmt.

BayVerfGH, Pressemitteilung v. 09.05.2016 zu den Entscheidungen v. 09.05.2016, Vf. 14-VII-14, Vf. 3-VIII-15, Vf. 4-VIII-15

Redaktionelle Hinweise

Alle Meldungen (zB amtliche Stellungnahmen) im Kontext „Mindestabstände von Windkraftanlagen“: vgl. hier.

Detailliert zur Gesetzesänderung aus dem Jahr 2014: vgl. insbesondere hier, darüber hinaus auch hier.