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Rezension: Kahl, „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ unter dem GG. Eine kritische Analyse (C.F. Müller 2016)

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Rezension_Fotolia_91184109_S_copyright - passvon Prof. Dr. Josef Franz Lindner, Universität Augsburg

Der 2014 neu eingeführte Artikel 3 Absatz 2 Satz 2 der Bayerischen Verfassung (BV) verpflichtet den Staat,  „gleichwertige Lebensverhältnisse und Arbeitsbedingungen in ganz Bayern, in Stadt und Land“, zu fördern und zu sichern. Damit enthält die Bayerische Verfassung einen Verfassungsauftrag, ein Staatsziel, für gleichwertige Lebensverhältnisse und Arbeitsbedingungen in Bayern zu sorgen. Ob es ein vergleichbares Staatsziel auch auf Bundesebene, also auf der Ebene des Grundgesetzes gibt, war und ist seit langem umstritten. Die bislang ganz herrschende Meinung hat ein entsprechendes Staatsziel zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in ganz Deutschland abgelehnt. Die anzuzeigende Studie, verfasst von dem Heidelberger Ordinarius für Öffentliches Recht und Direktor des Instituts für deutsches und europäisches Verwaltungsrecht der Universität Heidelberg, Wolfgang Kahl unternimmt es, dieser Frage im Einzelnen nachzuspüren. Ausgehend von der zutreffenden Diagnose, dass „in der alltäglichen politischen Diskussion“ das Ziel der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse „magische Anziehungskraft“ entfalte (S. 2), wendet sich Kahl zunächst dem Begriff der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse zu. Letztlich enthält insbesondere der Begriff der „Gleichwertigkeit“ offene Flanken. Welche Kriterien legt man dem Begriff der „Wertigkeit“ zugrunde? Wann ist die „Wertigkeit“ gleich oder im Wesentlichen vergleichbar? Es ist offensichtlich, dass der Begriff für Wertungen vielfacher Art offen ist. Nach Auffassung des Autors gehe es bei der Gleichwertigkeit somit um eine „flächendeckende Grundversorgung…, die den sozialen und territorialen Zusammenhalt der Gesellschaft“ sicherstelle (S. 9). Mit dieser Definition ist im Hinblick auf eine exakte Begriffsbestimmung allerdings noch wenig gewonnen, da sich die offene Flanke des Begriffs „Gleichwertigkeit“ lediglich dahingehend verschiebt, was unter dem Begriff „Zusammenhalt der Gesellschaft“ verstanden wird und unter welchen Bedingungen man einen solchen annehmen kann.

Der Hauptteil der Studie ist der Frage gewidmet, ob sich ein allgemeines Verfassungsprinzip oder Staatsziel „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ auf Bundesebene begründen lässt. Diese Frage wird vom Verfasser im Ergebnis verneint. Kahl wendet sich zunächst dem EU-Recht zu und untersucht, ob es sich bei der Unionszielbestimmung „wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt“ (vgl. Art. 3 Abs. 3 EUV) auch um einen Verfassungsauftrag zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse innerhalb des Mitgliedstaates Deutschland handeln könnte. Nach dieser Vorschrift fördert die EU den „wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten“. Bereits aus dem Wortlaut ergibt sich mit hinreichender Deutlichkeit, dass die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse innerhalb eines Mitgliedstaats von Art. 3 Abs. 3 EUV nicht umfasst ist. Kahl hebt zutreffend hervor, dass die Zielbestimmung des EU-Vertrags eine unterschiedliche und differenzierte Entwicklung in den einzelnen Teilräumen im Grundsatz gerade toleriere. Als Fazit der EU-rechtlichen Betrachtung steht das zutreffende Zwischenergebnis, dass aus keiner unionsrechtlichen Bestimmung (auch nicht aus Art. 170 ff., 174 ff. AEUV) ein Auftrag der Bundesrepublik Deutschland zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse abgeleitet werden kann.

Sodann wendet sich Kahl dem Art. 72 Abs. 2 GG zu. Nach der ursprünglichen Fassung des Art. 72 Abs. 2 Nr. 3 GG hatte der Bund im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung die Gesetzgebungskompetenz, „soweit ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung besteht, weil … die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit, insbesondere die Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse über das Gebiet eines Landes hinaus sie erfordert“. Ob der Begriff der „Einheitlichkeit“ der Lebensverhältnisse mit dem der „Gleichwertigkeit“ synonym ist, sei dahingestellt. Jedenfalls wurde aus der ursprünglichen Fassung des Art. 72 Abs. 2 GG kein Verfassungsauftrag zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse abgeleitet. Gleiches gilt für die Neufassung des Art. 72 Abs. 2 GG. Danach hat der Bund bei den in Art. 72 Abs. 2 GG genannten Nummern des Art. 74 GG das Gesetzgebungsrecht, „wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht“. Auch bei der aktuellen Fassung des Art. 72 Abs. 2 handelt es sich nicht um einen Verfassungsauftrag zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse, sondern um eine Kompetenzbegrenzungsklausel. Auch wenn ein Lebenssachverhalt unter die in Art. 72 Abs. 2 GG genannten Nummern des Art. 74 GG fällt, hat der Bund damit noch nicht automatisch die Gesetzgebungskompetenz. Diese ist vielmehr nur dann gegeben, wenn u.a. die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet dies erfordert. So wie man grundsätzlich aus Kompetenzverteilungsnormen keine materiell-rechtlichen Gesetzgebungsaufträge ableiten sollte, so ist es auch fernliegend, aus der Gleichwertigkeitsklausel in Art. 72 Abs. 2 GG einen Verfassungsauftrag des Bundesgesetzgebers zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse abzuleiten. Im weiteren Verlauf seiner Darstellung arbeitet Kahl zutreffend heraus, dass sich auch aus Art. 91a GG sowie den haushaltsrechtlichen Vorschriften der Art. 106, 107 und 104b GG kein Verfassungsauftrag zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse ableiten lässt. Etwas anderes folgt, wie Kahl überzeugend darlegt, auch nicht aus dem Sozialstaatsprinzip, dem Bundesstaatsprinzip oder Art. 87e Abs. 4 GG und 87f Abs. 1 GG. Auch die Grundrechte sind – so Kahl zutreffend – für eine Postulierung eines Verfassungsauftrags zur Herstellung einheitlicher oder gleichwertiger Lebensverhältnisse nicht ergiebig. Dies gilt insbesondere für den Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG). Am Ende des Durchgangs durch das maßgebliche EU-Recht und die infrage kommenden Vorschriften des Grundgesetzes steht das überzeugende Ergebnis, dass sich ein Verfassungsauftrag zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland nicht begründen lässt.

Sodann wendet Kahl sich der Frage zu, ob es verfassungspolitisch wünschenswert wäre, auch auf der Ebene des Grundgesetzes eine dem Art. 3 Abs. 2 Satz 2 BV vergleichbare Staatszielbestimmung einzuführen. Kahl plädiert deutlich gegen die Einführung eines Staatsziels zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse. Es sei – im Gegenteil – als „Ausweis verfassungsrechtlicher Vernunft und Weitsicht“ zu begrüßen, dass die nach der deutschen Vereinigung eingesetzte Verfassungsreformkommission im Jahr 1993 ein solches Staatsziel ausdrücklich verworfen habe (S. 59). Es lassen sich sicherlich gute Gründe für die Skepsis gegenüber der Einführung einer solchen Staatszielbestimmung anführen: die mangelnde begriffliche Konturierung und Konkretisierung, die nur eingeschränkte Justiziabilität, die Weite des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers bei der Umsetzung, letztlich die Skepsis gegenüber Staatszielbestimmungen überhaupt. Auf der anderen Seite ist jedoch in Rechnung zu stellen, dass sich auseinanderentwickelnde Lebensverhältnisse in verschiedenen Teilen der Bundesrepublik Deutschland letztlich, zumindest wenn die Auseinanderentwicklung ein kritisches Maß übersteigt, auch zu einem Auseinanderdriften der Gesellschaft in sozialer und gesellschaftspolitischer Hinsicht führen kann. Mit anderen Worten: Der Zusammenhalt einer Gesellschaft hängt auch an vergleichbaren wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen in allen Teilen der Bundesrepublik Deutschland. Jedenfalls ein Mindestmaß an Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse dürfte also eine faktisch-gesellschaftspolitische Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit der bundesrepublikanischen Demokratie sein. Man könnte von „Zusammenhalt als Verfassungsvoraussetzung“ sprechen.

Infolge seiner grundsätzlichen Skepsis gegenüber der Einführung eines Staatsziels „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ im Grundgesetz ist es auch nicht überraschend, dass Kahl das Beispiel des Freistaates Bayern (der neue Art. 3 Abs. 2 Satz 2 BV) nicht als Vorbild für den Bund sieht. Auch gegenüber der Wirkkraft der neuen bayerischen Verfassungsbestimmung äußert er – verfassungsrechtlich zutreffend – Zweifel. Insbesondere wird zutreffend angemerkt, „dass dem Ziel der Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse wie jedem Staatsziel infolge des Grundsatzes der Einheit der Verfassung im Einzelfall andere verfassungsrechtliche Rechtsgüter (z.B. Demokratie, Rechtsstaat, Grundrechte) entgegen stehen werden“ (S. 62). Das Ziel der Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse werde durch mögliche konfligierende Verfassungs- und Unionsprinzipien beschränkt, mit denen es im Wege der Güterabwägung zu einem angemessenen Ausgleich mit dem Ziel der Herstellung praktischer Konkordanz zu bringen sei. Damit bleibe die praktische Wirkkraft letztlich beschränkt. Richtig an dieser skeptischen Anmerkung ist sicherlich, dass mit der neuen Verfassungsbestimmung ein nicht zu hoher Erwartungsdruck verbunden sein sollte. Gleichwohl ist die neue Staatszielbestimmung nicht völlig funktions- oder bedeutungslos. So hat der Freistaat Bayern im Rahmen seiner Kompetenzen durchaus die Möglichkeit – und aus Art. 3 Abs. 2 Satz 2 BV auch die Pflicht –, im Rahmen von politischen Schwerpunktsetzungen im Haushalt oder etwa bei der Ansiedlung neuer Einrichtungen (Schulen, Hochschulen, Infrastruktureinrichtungen, Krankenhäuser etc.) dem Aspekt der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse Rechnung zu tragen. Zwar mag dies nicht justiziabel sein, jedoch dürfte das Verfassungspostulat der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in ganz Bayern ein politisches Kriterium sein, das in der politischen Auseinandersetzung im Freistaat Bayern von Bedeutung ist. Mit anderen Worten:  Das Ziel der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse wird weder vor den Verwaltungsgerichten noch vor dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof dahingehend „eingeklagt“ werden können, dass der Freistaat Bayern oder die Kommunen verpflichtet werden könnten, bestimmte Maßnahmen zu treffen. Im Rahmen der politischen Rechtfertigung von Projekten, aber auch im Zusammenhang mit planungsrechtlichen Abwägungen, dürfte dem neuen Art. 3 Abs. 2 Satz 2 BV aber zweifelsohne eine Direktivwirkung zukommen können.

Ungeachtet der insgesamt vielleicht zu weit gehenden Skepsis von Kahl gegenüber der neuen Staatszielbestimmung in der BV handelt es sich bei seiner Studie um eine sehr lesenswerte Analyse der Thematik. Die Schrift zeigt einmal mehr, wie wichtig es ist, dass sich etablierte Ordinarien nicht nur in Aufsätzen, Kommentaren oder Gutachten zu Wort melden, sondern sich auch der Mühe einer weiterführenden Monografie unterziehen, die vorliegend zudem in einer Kürze und Prägnanz verfasst ist, dass man sie auch in kürzerer Zeit mit hohem Gewinn lesen kann.

Wolfgang Kahl, „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ unter dem Grundgesetz. Eine kritische Analyse. C.F. Müller 2016; VIII, 78 Seiten, Softcover; ISBN 978-3-8114-3959-7; 39,99 EUR 

Net-Dokument BayRVR2016051101; Titelfoto: (c) bogdanvija – Fotolia.com

Anmerkung der Redaktion

01_Prof. Lindner_passProf. Dr. Josef Franz Lindner ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Medizinrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Augsburg sowie geschäftsführender Direktor des Instituts für Bio-, Gesundheits- und Medizinrecht. Der Lehrstuhl widmet sich dem Öffentlichen Recht in der gesamten Breite, den philosophischen Grundlagen des Rechts sowie dem Bio-, Medizin- und Gesundheitsrecht. Der Verfasser kommentiert in der in Entstehung begriffenen Neuauflage des Lindner/Möstl/Wolff, Kommentar zur Verfassung des Freistaates Bayern, den neuen Art. 3 Abs. 2 Satz 2 BV.

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