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EuGH: Keine Freiheitsstrafe allein wegen illegaler Einreise eines Drittstaatsangehörigen vor Abschluss des Rückkehrverfahrens

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Die Rückführungsrichtlinie verbietet es, dass gegen einen Drittstaatsangehörigen vor der Einleitung eines Rückkehrverfahrens allein deshalb eine Freiheitsstrafe verhängt werden kann, weil er illegal in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats über eine Binnengrenze des Schengen-Raums eingereist ist / Dies gilt auch, wenn der Drittstaatsangehörige, der sich im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats nur auf der Durchreise befindet, bei seiner Ausreise aus dem Schengen-Raum festgenommen wird und ein Verfahren für seine Wiederaufnahme in dem Mitgliedstaat, aus dem er kam, eingeleitet wird

Mit der Richtlinie über die Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (im Folgenden: Rückführungsrichtlinie)[1] wurden gemeinsame Normen und Verfahren geschaffen, die die Mitgliedstaaten bei der Abschiebung von illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen aus ihrem Hoheitsgebiet anzuwenden haben.

Die Richtlinie sieht vor, dass gegen jeden illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung zu erlassen ist. Diese Entscheidung eröffnet grundsätzlich eine Frist für die freiwillige Rückkehr, der sich, soweit erforderlich, Maßnahmen zur zwangsweisen Abschiebung anschließen.

Für den Fall, dass eine freiwillige Ausreise nicht erfolgt, verpflichtet die Richtlinie die Mitgliedstaaten, die zwangsweise Abschiebung unter Einsatz von Maßnahmen durchzuführen, durch die so wenig Zwang wie möglich ausgeübt wird. Nur wenn die Abschiebung gefährdet zu werden droht, kann der Mitgliedstaat die betreffende Person in Abschiebehaft nehmen, deren Dauer in keinem Fall 18 Monate überschreiten darf.

Nach französischem Recht können Drittstaatsangehörige, wenn sie illegal in das französische Hoheitsgebiet eingereist sind, mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bestraft werden. Des Weiteren kann in Frankreich eine Person, gegen die ein oder mehrere Verdachtsgründe für die Begehung oder den Versuch der Begehung eines Verbrechens oder eines mit einer Freiheitsstrafe bedrohten Vergehens vorliegen, vorübergehend festgenommen werden, um zur Verfügung der Ermittlungspersonen gehalten zu werden (Polizeigewahrsam).

Frau Sélina Affum, die die ghanaische Staatsangehörigkeit besitzt, wurde am 22. März 2013 an der Einfahrt zum Ärmelkanal-Tunnel an Bord eines Reisebusses, der aus Gent (Belgien) kam und nach London (Vereinigtes Königreich) fuhr, von der französischen Polizei kontrolliert. Da sie einen belgischen Reisepass mit dem Foto und Namen einer anderen Person vorzeigte und keinen Ausweis oder Reiseunterlagen auf ihren eigenen Namen mit sich führte, wurde sie zunächst wegen illegaler Einreise in das französische Hoheitsgebiet in Polizeigewahrsam genommen. Belgien wurde sodann von den französischen Behörden darum ersucht, Frau Affum wieder in das belgische Hoheitsgebiet aufzunehmen.

Da Frau Affum geltend machte, dass sie rechtswidrig in Polizeigewahrsam genommen worden sei, legte die Cour de cassation (französischer Kassationsgerichtshof) dem Gerichtshof die Frage vor, ob nach der Rückführungsrichtlinie die illegale Einreise eines Drittstaatsangehörigen in das nationale Hoheitsgebiet mit einer Freiheitsstrafe geahndet werden kann.

In seinem heutigen Urteil erinnert der Gerichtshof zunächst an seine Rechtsprechung aus dem Urteil Achughbabian[2], auf die die Vorlagefrage der Cour de cassation eigens Bezug nimmt. Nach dieser Rechtsprechung steht die Rückführungsrichtlinie einer mitgliedstaatlichen Regelung entgegen, die den illegalen Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen, für den das von dieser Richtlinie geschaffene Rückkehrverfahren noch nicht abgeschlossen wurde, mit einer Freiheitsstrafe ahndet. Nach dieser Rechtsprechung gestattet es diese Richtlinie jedoch, einen solchen Staatsangehörigen zu inhaftieren, wenn dieses Verfahren zuvor auf ihn angewandt wurde und er sich ohne einen Rechtfertigungsgrund weiterhin illegal in dem genannten Hoheitsgebiet aufhält[3]. Darüber hinaus steht diese Richtlinie auch der Verwaltungshaft zur Ermittlung, ob der Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen illegal ist oder nicht, nicht entgegen.

Sodann stellt der Gerichtshof fest, dass die illegale Einreise einen der tatsächlichen Umstände darstellt, der zu einem illegalen Aufenthalt im Sinne der Rückführungsrichtlinie führen kann. Daher ist die Richtlinie auf einen Drittstaatsangehörigen anwendbar, der wie Frau Affum illegal in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eingereist ist und deshalb als dort illegal aufhältig angesehen wird. Infolgedessen ist auf einen solchen Staatsangehörigen das in der Richtlinie vorgesehene Rückkehrverfahren im Hinblick auf seine Abschiebung anzuwenden, sofern sein Aufenthalt nicht gegebenenfalls legalisiert wurde.

Der Gerichtshof stellt zudem fest, dass es die von der Richtlinie vorgesehenen Ausnahmen[4] den Mitgliedstaaten nicht gestatten, einen Staatsangehörigen wie Frau Affum vom Anwendungsbereich der Richtlinie auszunehmen, weil er eine Binnengrenze des Schengen-Raums (hier die Grenze zwischen Frankreich und Belgien) illegal überschritten hat oder weil er bei dem Versuch, den Schengen-Raum zu verlassen (das Vereinigte Königreich gehört nämlich nicht zu diesem Raum), festgenommen wurde.

Der Umstand, dass bezüglich Frau Affum ein Verfahren für ihre Wiederaufnahme in dem Mitgliedstaat, aus dem sie kam (Belgien), eingeleitet wurde, führt nicht zur Unanwendbarkeit der Richtlinie auf ihren Fall. Die Wiederaufnahme bewirkt nämlich lediglich die Übertragung der Verpflichtung zur Anwendung des Rückkehrverfahrens auf den Mitgliedstaat, der den Staatsangehörigen wieder aufzunehmen hat (hier: Belgien). Einem illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Freiheitsstrafe aufzuerlegen, würde nämlich die Einleitung dieses Verfahrens und seine effektive Abschiebung verzögern und somit die praktische Wirksamkeit der Richtlinie beeinträchtigen.

Schließlich steht auch die Tatsache, dass Frau Affum sich lediglich auf der Durchreise befand, der Anwendung der Richtlinie nicht entgegen. Denn ein Drittstaatsangehöriger, der sich an Bord eines Reisebusses befindet, ohne zur Einreise berechtigt gewesen zu sein, ist gleichwohl im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats (hier Frankreich) anwesend und damit dort „illegal aufhältig“ im Sinne der Richtlinie, da diese keine Voraussetzungen hinsichtlich der Mindestdauer seiner Anwesenheit oder der Absicht zum Verbleib in diesem Hoheitsgebiet vorsieht.

Da für Frau Affum die Richtlinie gilt, durfte sie, bevor sie dem Rückkehrverfahren unterworfen wurde, nicht allein deshalb inhaftiert werden, weil sie illegal in das französische Hoheitsgebiet eingereist ist. Die französischen Behörden hatten jedoch dieses Verfahren noch nicht einmal eingeleitet.

Daher hat der Gerichtshof entschieden, dass die Mitgliedstaaten aus denselben Gründen wie denen, die er in seiner Rechtsprechung aus dem Urteil Achughbabian dargelegt hat, nicht allein aufgrund des Umstands einer illegalen Einreise, die zu einem illegalen Aufenthalt führt, die Inhaftierung von Drittstaatsangehörigen gestatten können, für die das mit der Richtlinie geschaffene Rückkehrverfahren noch nicht abgeschlossen wurde, da eine solche Inhaftierung geeignet ist, die Anwendung dieses Verfahrens scheitern zu lassen und die Rückführung zu verzögern, und somit die praktische Wirksamkeit dieser Richtlinie beeinträchtigt. Der Gerichtshof stellt klar, dass dies jedoch nicht die Möglichkeit für die Mitgliedstaaten ausschließt, die Verwirklichung anderer Straftatbestände als derjenigen im Zusammenhang mit dem bloßen Umstand einer illegalen Einreise, einschließlich in den Situationen, in denen das Rückkehrverfahren noch nicht abgeschlossen wurde, mit einer Freiheitsstrafe zu ahnden.

EuGH, Pressemitteilung v. 07.06.2016 zum U. v. 07.06.2016, Rs. C-47/15 (Sélina Affum/Préfet du Pas de Calais und Procureur général de la Cour d’appel de Douai)

Redaktionelle Hinweise


[1] Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348, S. 98). Dänemark, das Vereinigte Königreich und Irland unterliegen dieser Richtlinie nicht.

[2] Urteil des Gerichtshofs vom 6. Dezember 2011, Achughbabian (C-329/11, siehe Pressemitteilung Nr. 133/11).

[3] In einem anderen Urteil hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Richtlinie auch der Verhängung einer Freiheitsstrafe gegen einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen nicht entgegensteht, wenn das Rückkehrverfahren angewandt wurde und dieser Staatsangehörige unter Verstoß gegen das ihm auferlegte Einreiseverbot erneut in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats einreist (Urteil des Gerichtshofs vom 1. Oktober 2015, Celaj, C-290/14, siehe Pressemitteilung Nr. 112/15).

[4] Nach der Richtlinie können die Mitgliedstaaten beschließen, diese Richtlinie nicht auf Drittstaatsangehörige anzuwenden, die einem Einreiseverbot nach Art. 13 des Schengener Grenzkodex unterliegen oder die von den zuständigen Behörden in Verbindung mit dem illegalen Überschreiten der Außengrenze eines Mitgliedstaats auf dem Land-, See- oder Luftwege aufgegriffen bzw. abgefangen werden und die nicht anschließend die Genehmigung oder das Recht erhalten haben, sich in diesem Mitgliedstaat aufzuhalten.