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EuGH: „Ne bis in idem“ steht abermaliger Strafverfolgung nicht entgegen, falls Verfahren in einem anderen Schengen-Staat zuvor ohne eingehende Ermittlungen eingestellt wurde

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Ein Tatverdächtiger kann in einem Schengen-Staat erneut strafrechtlich verfolgt werden, wenn die frühere Strafverfolgung in einem anderen Schengen-Staat ohne eingehende Ermittlungen eingestellt worden ist / Die unterlassene Vernehmung des Geschädigten und eines möglichen Zeugen stellt ein Indiz für das Fehlen solcher Ermittlungen dar

Die Staatsanwaltschaft Hamburg (Deutschland) wirft Herrn Piotr Kossowski vor, in Hamburg eine schwere räuberische Erpressung begangen zu haben. Das Landgericht Hamburg lehnte die Eröffnung des Hauptverfahrens jedoch mit der Begründung ab, dass dem der Grundsatz ne bis in idem, wie er im Schengen-Raum[1] gilt, entgegenstehe. Nach diesem Grundsatz darf eine Person wegen derselben Straftat nicht zweimal verfolgt oder bestraft werden. Im vorliegenden Fall hatte die Kreisstaatsanwaltschaft Kołobrzeg in Polen, wo Herr Kossowski wegen einer anderen Straftat festgenommen worden war, wegen derselben Tat bereits ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eröffnet und dieses mangels hinreichenden Tatverdachts endgültig eingestellt. Der Einstellungsbeschluss der Kreisstaatsanwaltschaft Kołobrzeg wurde konkret damit begründet, dass Herr Kossowski die Aussage verweigert habe und dass der Geschädigte und ein Zeuge vom Hörensagen in Deutschland wohnten, so dass sie im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht hätten vernommen werden können, und dass die Angaben des Geschädigten somit nicht hätten überprüft werden können. In Polen wurden keine eingehenderen Ermittlungen durchgeführt.

Das von der Staatsanwaltschaft Hamburg angerufene Hanseatische Oberlandesgericht Hamburg ersucht den Gerichtshof um Präzisierung der Tragweite des Grundsatzes ne bis in idem. Es möchte insbesondere wissen, ob Herr Kossowski angesichts des Umstands, dass der Beschluss der polnischen Staatsanwaltschaft ohne eingehende Ermittlungen[2] erlassen wurde, als „rechtskräftig abgeurteilt“[3] oder „rechtskräftig … freigesprochen“[4] anzusehen ist, so dass der Grundsatz ne bis in idem einer erneuten Strafverfolgung wegen derselben Tat in Deutschland entgegenstünde.

In seinem heutigen Urteil stellt der Gerichtshof fest, dass der Grundsatz ne bis in idem das Ziel verfolgt, einem Betroffenen zu garantieren, dass er sich, wenn er in einem Schengen-Staat verurteilt worden ist und die Strafe verbüßt hat oder gegebenenfalls endgültig freigesprochen worden ist, im Schengen-Raum bewegen kann, ohne befürchten zu müssen, dass er in einem anderen Schengen-Staat wegen derselben Tat verfolgt wird.

Dieser Grundsatz verfolgt jedoch nicht das Ziel, einen Verdächtigen dagegen zu schützen, dass er möglicherweise wegen derselben Tat in mehreren Schengen-Staaten aufeinanderfolgenden Ermittlungen ausgesetzt ist.

Die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem auf einen Einstellungsbeschluss, den die Justizbehörden eines Schengen-Staates ohne jede eingehende Prüfung des dem Angeschuldigten vorgeworfenen rechtswidrigen Verhaltens erlassen haben, liefe dem Zweck des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, der in der Bekämpfung der Kriminalität besteht, offensichtlich zuwider und könnte das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten untereinander gefährden.

Daher hat der Gerichtshof für Recht erkannt, dass ein Beschluss der Staatsanwaltschaft, mit dem das Strafverfahren beendet und das Ermittlungsverfahren gegen eine Person (ohne die Auferlegung von Sanktionen) endgültig[5] eingestellt wird, nicht als rechtskräftige Entscheidung[6] zum Zwecke der Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem eingestuft werden kann, wenn aus der Begründung dieses Beschlusses hervorgeht, dass dieses Verfahren eingestellt wurde, ohne dass eingehende Ermittlungen durchgeführt worden wären. Die unterlassene Vernehmung des Geschädigten und eines möglichen Zeugen stellen ein Indiz dafür dar, dass keine eingehenden Ermittlungen durchgeführt worden sind[7].

EuGH, Pressemitteilung v. 29.06.2016 zum U. v. 29.06.2016, Rs. C-486/14 (Piotr Kossowski)

Redaktioneller Hinweis: Die Überschrift („Schlagzeile“) wurde redaktionell formuliert.

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[1] Dieser Grundsatz ist in Art. 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen (Luxemburg) unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen und in Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union niedergelegt.

[2] Nach Ansicht des Oberlandesgerichts unterscheidet sich die vorliegende Rechtssache im Hinblick hierauf von der Rechtssache, in der das Urteil des Gerichtshofs vom 5. Juni 2014, M, (C-398/12), ergangen ist.

[3] Im Sinne von Art. 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen.

[4] Im Sinne von Art. 50 der Charta.

[5] In diesem Zusammenhang weist der Gerichtshof darauf hin, dass im polnischen Recht weder die Möglichkeit zur Verfahrenswiedereröffnung im Falle neuer wesentlicher Umstände noch die Möglichkeit zur Aufhebung des Einstellungsbeschlusses die Rechtskraft des Strafklageverbrauchs in Frage stellen.

[6] Im Sinne von Art. 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen in Verbindung mit Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.

[7] Angesichts dieser Antwort braucht nach Auffassung des Gerichtshofs die andere Frage des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg nicht mehr beantwortet zu werden. Mit dieser Frage wollte das Oberlandesgericht wissen, ob die für einen Schengen-Staat bestehende Möglichkeit, bei der Ratifikation des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen einen Vorbehalt anzubringen, so dass dieser Staat durch den Grundsatz ne bis in idem nicht gebunden ist, wenn die Tat in seinem Hoheitsgebiet begangen wurde (Deutschland hatte einen solchen Vorbehalt angebracht), im Hinblick auf die Charta der Grundrechte noch gültig ist.