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Die bayerische Verwaltungsgerichtsbarkeit in der aktuellen Zuwanderungssituation – Jahrespressegespräch 2016

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Auf Einladung des BayVGH fand ebendort in München am 24.08.2016 das Jahrespressegespräch statt, in dessen Mittelpunkt die Lage der bayerischen Verwaltungsgerichtsbarkeit in der aktuellen Zuwanderungssituation stand. Als Vertreterin der von der Thematik weitaus stärker betroffenen ersten Instanz schilderte neben dem Präsidenten des BayVGH, Stephan Kersten, auch die Präsidentin des VG München, Andrea Breit, die daraus resultierenden besonderen Herausforderungen. Zunächst aber informierte Präsident Kersten über ausgesuchte rechtshängige Verfahren von besonderem öffentlichen Interesse, darunter mit dem Verzicht der Gemeinde Hohenbrunn auf die Erhebung von Straßenausbaubeiträgen auch ein Verfahren von grundsätzlicher rechtlicher Bedeutung.

I. Verfahren von besonderem öffentlichen Interesse

1. Klagen gegen die zweite S-Bahn-Stammstrecke in München

Am 11.07.2016 hatte der BayVGH bereits über vier von insgesamt sieben Klagen entschieden, die sich gegen den Planfeststellungsbeschluss für den westlichen Abschnitt (Laim bis Karlsplatz/Stachus) richteten. Die Klagen blieben überwiegend erfolglos. Allerdings wurde das Eisenbahnbundesamt verpflichtet, den Planfeststellungsbeschluss um Schutzauflagen für die Bauphase (Lieferverkehr, Erschütterungen, Brandschutz) zu ergänzen. Die drei weiteren den Westabschnitt betreffenden Verfahren sollen im Herbst 2016 verhandelt werden.

Sechs Verfahren sind rechtshängig, die Planänderungen am Mittelabschnitt betreffen (im Wesentlichen geht es dabei um die Verlegung von Leitungen). Hier finden die mündlichen Verhandlungen voraussichtlich im Spätherbst/Winter 2016 statt.

Noch nicht absehbar ist, wann der BayVGH über die den östlichen Planungsabschnitt betreffenden sechs Klagen entscheiden kann. Die Kläger (Anwohner, Gewerbetreibende) rügen hier insbesondere die während der Bauphase auftretenden Belastungen, durch die sie auch finanzielle Einbußen befürchten. Mit Verhandlungsreife sei vermutlich Mitte 2017 zu rechnen.

Ob eine der Klagen das Potenzial habe, das ganze Vorhaben zu Fall zu bringen, könne man vor der Verhandlung nicht sagen, jedenfalls mit Blick auf die bisherigen Entscheidungen sei das nicht der Fall gewesen.

2. Verzicht der Gemeinde Hohenbrunn (Lkr. München) auf die Erhebung von Straßenausbaubeiträgen

Voraussichtlich im November 2016 steht die mündliche Verhandlung in einem Verfahren an, das mit dem Thema „Straßenausbaubeitrag“ nicht nur hohe Kommunalrelevanz und Bedeutung für die betroffenen Grundstückseigentümer besitzt, sondern bei dem es darüber hinaus auch um die Klärung rechtlicher Grundsatzfragen geht.

Ursprünglich verfügte die Gemeinde über eine Straßenausbaubeitragssatzung. Aufgrund der guten Finanzlage schien dem Gemeinderat eine solche jedoch entbehrlich und er beschloss eine Aufhebungssatzung.

In dem Verfahren wendet sich die klagende Gemeinde Hohenbrunn gegen die Anordnung des LRA München, mit der die Aufhebung der Ausbaubeitragssatzung rechtsaufsichtlich beanstandet und die Gemeinde verpflichtet wurde, den Aufhebungsbeschluss des Gemeinderats aufzuheben und eine neue Beitragssatzung zu erlassen. Das VG München hatte die Klage im Wesentlichen abgewiesen (M 2 K 14.1641).

Der BayVGH hat die Berufung zur Klärung der Frage zugelassen, unter welchen Voraussetzungen es das KAG ausnahmsweise zulässt, dass eine Gemeinde auf die Erhebung von Beiträgen für die Verbesserung oder Erneuerung von Ortsstraßen und beschränkt-öffentlichen Wegen verzichtet. Das bayerische Kommunalabgabengesetz sieht – auch nach der letzten KAG-Novelle, die überwiegend am 01.04.2016 in Kraft getreten ist und insbesondere die Erhebung wiederkehrender Beiträge für Verkehrsanlagen ermöglichte – in Art. 5 Abs. 1 Satz 3 vor, dass für die Verbesserung oder Erneuerung von Ortsstraßen und beschränkt-öffentlichen Wegen Straßenausbaubeiträge erhoben werden „sollen“. Es stellt sich die Frage, ob und in welchen Konstellationen eine Gemeinde von dieser Soll-Vorschrift abweichen darf. Dabei ist insbesondere die konkrete finanzielle Situation der jeweiligen Gemeinde von Bedeutung (die Landeshauptstadt München z.B. verzichtet ebenfalls auf solche Straßenausbaubeiträge). Daneben stellt sich die Frage, ob die Erhebung von Straßenausbaubeiträgen als besonderen Entgelten für Leistungen der Gemeinde zugunsten der bevorteilten Grundstückseigentümer aus gesetzessystematischen Gründen Vorrang vor gemeindlicher Steuererhebung hat (vgl. Art. 62 Abs. 2 GO).

Mehrere ähnliche Verfahren, schwerpunktmäßig im südbayerischen Raum, sind vor den VG rechtshängig, dem Verfahren vor dem BayVGH kommt insoweit Pilotwirkung zu.

II. Die bayerische Verwaltungsgerichtsbarkeit in der aktuellen Zuwanderungssituation

Im Mittelpunkt des Pressegesprächs standen die besonderen Herausforderungen für die bayerische Verwaltungsgerichtsbarkeit angesichts weiter – und schon seit Jahren – stark steigender Asylverfahren. Damit stand erneut ein Thema im Mittelpunkt, auf dessen besondere Bedeutung Vertreter der bayerischen Verwaltungsgerichtsbarkeit schon seit Jahren immer wieder hinweisen, sei es im Rahmen der Präsidententagung der bayerischen Verwaltungsgerichtsbarkeit 2014 in Coburg und 2015 in Dinkelsbühl, der Frühjahrs- und der Herbsttagung 2015 der bayerischen Verwaltungsgerichtspräsidenten oder etwa in der Rede des scheidenden Präsidenten des VG Regensburg, Dr. Hans Korber, anlässlich des Amtswechsels am 27.07.2015.

Die besonderen Schwierigkeiten für die Verwaltungsgerichte ergeben sich dabei nicht nur aus der schieren Anzahl der Verfahren, sondern sind auch organisatorischer Natur. So ist der Eingang neuer Verfahren in Umfang und Zeitpunkt kaum vorhersehbar, weil die konkrete Arbeitsbelastung der einzelnen Gerichte von der Arbeitsorganisation des BAMF abhängt. Entscheide sich das BAMF beispielsweise zur vorrangigen Abarbeitung einfacher Altverfahren, z.B. von Asylbegehrenden aus Syrien oder aus sicheren Herkunftsstaaten, so kämen auf die nach dem Geschäftsverteilungsplan für das jeweilige Land zuständige Kammer u.U. mehrere hundert Verfahren zu, die angesichts bereits starker überobligatorischer Arbeitsbelastung von der Kammer gar nicht mehr bewältigt werden könnten, so dass man als Präsident bzw. Präsidentin bei den anderen Spruchkörpern, die ebenfalls stark belastet sind, „hausieren“ gehen müsse, wer noch welche Verfahren übernehmen könne, um hiernach einen modifizierten Geschäftsverteilungsplan zu beschließen.

1. Anzahl der eingehenden und erledigten Asylverfahren

Die Entwicklung der eingehenden Asylverfahren veranschaulicht nachfolgende Grafik des BayVGH:

Die aktuelle Zuwanderungssituation hat hiernach zu einem starken Anstieg der eingehenden Asylsachen geführt. Im Jahr 2015 sind 11.071 erstinstanzliche Asylverfahren (Klagen und Eilverfahren) bei den Verwaltungsgerichten eingegangen. Dies bedeutet gegenüber dem Jahr 2014 (7.275 Verfahren) eine Steigerung um ca. 52,2%.

Die bis einschließlich Juli 2016 eingegangenen erstinstanzlichen Verfahren belaufen sich auf 9.088. Ginge man davon aus, dass sich die eingehenden Asylverfahren auf diesem Niveau – ohne weiteren Anstieg – fortsetzten, wären 2016 ca. 15.579 eingehende Verfahren zu erwarten. Dies würde gegenüber dem Jahr 2015 eine weitere Zunahme um ca. 40,7% bedeuten. Es sei jedoch mit einem deutlich steileren Anstieg zu rechnen, weil davon auszugehen sei, dass das BAMF aufgrund des enormen Personalaufwuchses und der fortschreitenden Einarbeitung der neu eingestellten Mitarbeiter die Anzahl der Asylbescheide bis zum Jahrende nochmals deutlich steigern werde.

Auf die Qualität der Asylbescheide des BAMF hätten die deutlich schnelleren Entscheidungen und die zahlreichen Neueinstellungen noch keinen merklichen Einfluss gehabt. Allerdings würden bislang die einfachen Fälle abgearbeitet, die Qualität der Entscheidungen erweise sich erst an den komplizierteren Fallgestaltungen.

Den Anteil der Asylverfahren an den sonstigen Verfahren veranschaulichen folgende Grafiken des BayVGH:

Betrug der Anteil der Asylverfahren 2012 noch ca. 15,7% der erstinstanzlichen Verfahren, so lag ihr Anteil 2015 bereits bei ca. 38%.

Die Entwicklung der Erledigungszahlen illustriert nachfolgende Übersicht des BayVGH:

Die Anzahl der erledigten Asylverfahren hat sich hiernach deutlich erhöht. 2015 konnten die bayerischen Verwaltungsgerichte (1. Instanz) 10.816 Asylverfahren einer Erledigung zuführen – das ist ein Anstieg von ca. 142% gegenüber dem Jahre 2013.

Das sei dank des großen, überobligatorischen Arbeitseinsatzes der Richterschaft und der bereits realisierten Personalmehrungen (26 Richterstellen) gelungen. Die Möglichkeiten, die Effizienz der Verwaltungsgerichte zu steigern, sei allerdings weitestgehend ausgeschöpft.

Bei weiter steigenden Asylverfahren müssten die Gerichte mit mehr richterlichem und nichtrichterlichem Personal ausgestattet werden, sofern man keine Einbußen bei der Qualität der richterlichen Entscheidungen in Kauf nehmen wolle. Auch sei dann mit einem empfindlichen Anstieg der Verfahrensdauern sowohl bei den Asylverfahren (derzeit durchschnittlich 5,8 Monate bei Hauptsacheverfahren und 0,7 Monate beim vorläufigen Rechtsschutz) als auch bei den sonstigen Verfahren (derzeit durchschnittlich 7,1 Monate) zu rechnen.

Von den steigenden Asylverfahren ist bislang nur die erste Instanz betroffen.

2. Personal

Zur Bewältigung der hohen Zahl an Asylverfahren hat die Bayerische Verwaltungsgerichtsbarkeit bereits 26 zusätzliche Richterstellen bewilligt bekommen, die allesamt den Gerichten der 1. Instanz zugute kamen. Daneben besteht die Möglichkeit, weitere Stellen aus einer befristeten Stellenreserve der Bayerischen Staatsregierung anzufordern, die im Hinblick auf die aktuelle Zuwanderungssituation geschaffen wurde.

Angesichts weiter steigender Asylverfahren plädierten Präsident Kersten und Präsidentin Breit für die Schaffung eines zusätzlichen Stellenpools für die Bayerische Verwaltungsgerichtsbarkeit im Doppelhaushalt 2017/2018, um flexibel und kurzfristig auf weiter steigenden Bedarf reagieren zu können.

Es müsse das erklärte „Ziel sein, auch zukünftig allen Rechtsuchenden einen effektiven Rechtsschutz innerhalb vertretbarer Verfahrenslaufzeiten bieten zu können“.

Dem ist nichts hinzuzufügen.

Ass. iur. Klaus Kohnen; Titelfoto/-abbildung: (c) Jrg Hackemann – Fotolia.com