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BSG: Rainer Schlegel folgt Peter Masuch als Präsident des Bundessozialgerichts

Im Rahmen eines Festakts verabschiedete die Bundesministerin für Arbeit und Soziales Andrea Nahles heute den Präsidenten des Bundessozialgerichts Peter Masuch in den mit Ablauf des Monats September eintretenden Ruhestand und führte zugleich den bisherigen Vizepräsidenten Dr. Rainer Schlegel in sein neues Amt als Präsident des Bundessozialgerichts ein. Der Vorsitzende Richter am Bundessozialgericht Prof. Dr. Thomas Voelzke konnte über 450 Personen im Kongress Palais Kassel begrüßen, darunter zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter aus Justiz, Politik, Wissenschaft und Wirtschaft. Neben Ansprachen der Bundesministerin sowie des bisherigen und des künftigen Präsidenten richteten die Vorsitzende des Richterrats beim Bundessozialgericht Karen Krauß, die Hessische Ministerin der Justiz Eva Kühne-Hörmann, der Oberbürgermeister der Stadt Kassel Bertram Hilgen und die Vorsitzende des Personalrats beim Bundessozialgericht Susanne Pfitzenmeier Grußworte an die Anwesenden.

Nach der Verabschiedung und Amtseinführung durch Bundesministerin Nahles (siehe hierzu die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales herausgegebene Pressemitteilung) dankte ihr der scheidende Präsident des Bundessozialgerichts Peter Masuch und forderte sie auf, weiter für das Bundesteilhabegesetz zu kämpfen. Menschen mit Behinderung hätten große Erwartungen in den Entwurf gesteckt. Diese seien nicht unangemessen und verdienten eine Berücksichtigung. Auch das angekündigte Gesamtkonzept für eine Reform der Alterssicherung würde mit Spannung erwartet.

Anschließend richtete Masuch einen Appell an die Anwesenden, angesichts des stetigen Wandels in der Gesellschaft die Sozialpolitikforschung in Deutschland zu unterstützen.

Die Herausforderungen unseres Sozialstaats sind seit den 1980er Jahren massiv gewachsen: durch die zunehmend durchschlagenden demographischen Verschiebungen, die veränderten Familienformen, die Wiedervereinigung, die Integration der Flüchtlinge. Die etablierte Sozialpolitikforschung ließ gleichzeitig jedoch markant nach – mancher spricht hier von einer drohenden ‚Sozialpolitik im Blindflug‘ und damit einer Legitimationskrise des Sozialen überhaupt“, sagte Masuch.

Das Bundessozialgericht habe unter anderem 2014 durch die zweibändige Denkschrift „60 Jahre Bundessozialgericht“ unter dem Thema „Grundlagen und Herausforderungen des Sozialstaats“ einen Forschungsbeitrag geleistet. Er sei dankbar, dass Bundesministerin Nahles im Mai die Förderrichtlinie zur „Förderung der Forschung und Lehre im Bereich der Sozialpolitik“ erlassen habe. Damit sei ein Kasseler Denkanstoß weit hinein in Politik und Gesellschaft in Deutschland getragen worden. Zurecht würde darin festgestellt, dass die fundierte Analyse von aktuellen Veränderungen in Gesellschaft und Arbeitswelt, deren Auswirkungen auf bestehende sozialstaatliche beziehungsweise sozialpolitische Arrangements sowie der Konsequenzen von sozialpolitischen Umbrüchen unabdingbar sei für einen informierten sozialpolitischen Diskurs.

Gute Politik ist gleichsam angewiesen auf ein Umfeld engagierter Wissenschaft, die weitsichtig und mit analytischer Tiefe Veränderungen erkennt und deren Auswirkungen unabhängig beschreibt“, führte Masuch aus.

Masuch dankte den Vertreterinnen und Vertretern der Sozialrechtslehre in Deutschland, die die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts über all die Jahre ebenso treulich wie kritisch begleitet und gefördert hätten. Die gute Kooperation finde in der Universitätslandschaft ihren Ausdruck etwa im erfolgreichen Forschungsverbund Sozialrecht und Sozialpolitik der Universität Kassel und der Hochschule Fulda. Er begrüßte zudem die Neugründung des Vereins der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter am Bundessozialgericht. Damit bestehe ein Forum für eine Zusammenarbeit von Berufsrichtern und ehrenamtlichen Richtern, das zugleich der guten Pflege des Kontakts mit Gewerkschaften, Sozialverbänden, Arbeitgeberverbänden und allen, aus deren Kreisen ehrenamtliche Richterinnen und Richter benannt würden, diene.

Die gute Zusammenarbeit mit den Präsidentinnen und Präsidenten der anderen obersten Gerichtshöfe des Bundes lobte Masuch ausdrücklich. Er informierte, dass er in Anlehnung an eine Initiative des Bundesgerichtshofs aktuell untersuchen lasse, inwieweit Rechtsprechung zur sozialrechtlichen Entschädigung verfolgter Sinti und Roma vorliege. Anlässlich der aktuellen Diskussion über die Ermöglichung von TV- und Tonaufnahmen der Urteilsverkündungen oberster Gerichtshöfe des Bundes hob Masuch die Bedeutung des Öffentlichkeitsgrundsatzes hervor.

Öffentlichkeit bedeutet Kontrolle insbesondere der Richterinnen und Richter durch das Volk“, sagte Masuch.

Den Plänen für eine Erweiterung der Medienöffentlichkeit stehe er jedoch skeptisch gegenüber. Die mediale Berichterstattung sei im Rechtssinne nur mittelbare Öffentlichkeit. Auch sei ein Mehrwert an Information durch die Übertragung von Entscheidungsverkündungen bislang nicht erkennbar. Dabei komme in der Sozialgerichtsbarkeit eine besondere Sensibilität der Verfahren hinzu, wenn es zum Beispiel um den Gesundheitszustand eines Beteiligten gehe. Auch würden sich die Verfahren und Abläufe bei den obersten Gerichtshöfen des Bundes von denen des Bundesverfassungsgerichts, wo bereits eine Berichterstattung in Bild und Ton möglich sei, erheblich unterscheiden.

Masuch zeigte sich erfreut, dass das Gebäude des Bundessozialgerichts nach der umfassenden Sanierung in Jahren 2008/2009 im wahrsten Sinne des Wortes im besten Licht dastehe und der Öffentlichkeit zugänglich sei, so etwa bei den Tagen der offenen Tür 2010 und 2015, bei Musikveranstaltungen oder Ausstellungen.

Abschließend dankte Masuch in bewegenden Worten allen, die ihn auf seinem Weg begleitet haben. Er kündigte an, mit seiner Familie weiterhin in Kassel wohnen zu wollen. Auch wolle er sich weiterhin im Evangelischen Juristenforum des Bundessozialgerichts und der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, das in kurzer Zeit bundesweit bekannt geworden sei, und in der Bundesvereinigung Lebenshilfe engagieren.

Der künftige Präsident des Bundessozialgerichts Dr. Rainer Schlegel rief in seiner Ansprache den unschätzbaren Wert des sozialen Friedens für das gesellschaftliche Zusammenleben und die Bedeutung des Sozialstaats in Erinnerung.

Soziale Sicherheit ist auch in den heutigen Zeiten nicht weniger wichtig als innere Sicherheit“, betonte er.

Sozialstaatlichkeit sei als gelebte soziale Gerechtigkeit neben innerer Sicherheit das Erfolgsrezept des demokratischen Rechtsstaats.

Deutschland sei ein Land mit hohen und höchsten Sozialstandards. Den Löwenanteil machten dabei nicht steuer-, sondern beitragsfinanzierte Leistungen aus. So hätten beispielsweise allein die Krankenkassen 2015 rund 202 Milliarden Euro für beitragsfinanzierte Leistungen ausgegeben.

Sozialrecht und Gesundheitsrecht sind Wirtschaftsrecht“, so Schlegel.

Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen machten fortwährende Anpassungen erforderlich. Vor allem die demographische Entwicklung sei bei den umlagefinanzierten Sozialversicherungssystemen von besonderer Bedeutung. Änderungen, Reformen, und bereits bloße Reformvorschläge würden aber häufig die Gefahr einer Polarisierung und Entsolidarisierung nach sich ziehen. Der beste Garant für finanzielle Stabilität der Systeme sei eine nachhaltig funktionierende, ertragreiche Volkswirtschaft. Sie sei die Quelle der für soziale Sicherheit notwendigen Mittel. Ebenso wichtig sei jedoch Vertrauen in die Sinnhaftigkeit, Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit der sozialen Sicherungssysteme.

Vor allem die beitragsfinanzierte Sozialversicherung lebt in hohem Maße von ihrer Akzeptanz und dem Vertrauen in ihre Stabilität.“

Akzeptanz könne in erster Linie durch Transparenz und die Reduzierung von Komplexität erreicht werden. Das Vertrauen des Bürgers in den Staat und insbesondere auch in den Sozialstaat setze Ehrlichkeit und Verlässlichkeit aller Verantwortlichen voraus.

Auch die Rechtsprechung habe zur Vertrauensbildung der Bürgerinnen und Bürger in den sozialen Rechtsstaat einen Beitrag zu leisten. Richterinnen und Richter sollten in erster Linie verständliche Urteile schreiben.

Was wir brauchen sind stringente Gedankengänge und eine klare Sprache, keine Nebelkerzen und kein Schaulaufen. Wir sollten uns in unseren Urteilen auf das wirklich Nötige beschränken und dabei Lebensnähe an den Tag legen“, sagte Schlegel.

Ängste und Sorgen der Bürger müssten ernst genommen, ihre Argumente angehört werden.

Wer bei Gericht keine Gelegenheit erhält, sein Anliegen zu schildern, wird sich dort nicht gut aufgehoben fühlen. Nicht ohne Grund ist der Anspruch auf rechtliches Gehör ein fundamentales Recht eines jeden Bürgers“, betonte Schlegel.

Zuhören-Können, Geduld-Haben und Erklären-Können würden allerdings eine angemessene Ausstattung der Rechtsprechung insbesondere mit Richterinnen und Richtern voraussetzen. Dabei blickte Schlegel mit Sorge auf die Situation in den Ländern, wo häufig nur die Frage gestellt würde, wie viele Stellen der Haushalt für die Rechtsprechung zulasse. Dem stellte Schlegel die Frage entgegen:

Kann es sich ein Land leisten, gerade an dieser für den inneren und sozialen Frieden so entscheidenden Stelle zu sparen?“

Abschließend verwies Schlegel auf die besondere Vertrauensstellung, die den Richterinnen und Richtern von der Verfassung eingeräumt werde.

Das Anvertrauen der Rechtsprechung, wie es Artikel 92 Grundgesetz ausdrückt, zieht Verantwortung nach sich. Beides gehört untrennbar zusammen. Die Verantwortung, die wir als Richter für den Sozialstaat tragen, ist groß. Und ebenso groß sollten unsere Anstrengungen sein, dieser Verantwortung gerecht zu werden.“

Dr. Schlegel tritt sein künftiges Amt als Präsident des Bundessozialgerichts am 1. Oktober 2016 an.

Peter Masuch

Peter Masuch, wurde 1951 in Westerstede, Landkreis Ammerland, geboren. Nach einem zweijährigen Wehrdienst bei der Luftwaffe studierte er von 1972 bis 1978 Rechtswissenschaften an der Universität Bremen. Von 1979 bis 1980 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Bundessozialgericht tätig und trat danach in die Sozialgerichtsbarkeit der Freien Hansestadt Bremen ein. Von dort aus wurde er als wissenschaftlicher Mitarbeiter in den Jahren 1985/1986 erneut zum Bundessozialgericht und von 1993 bis 1995 zum Bundesverfassungsgericht abgeordnet. Seit 1990 war er Richter am Landessozialgericht.

Am 2. Mai 1996 wurde Peter Masuch zum Richter am Bundessozialgericht ernannt. Er war zunächst dem 8. und 10. Senat (unter anderem Knappschaftsversicherung, Konkursausfallgeld, Kindergeldrecht), ab 2001 dem 9. und 10. Senat (unter anderem Soziales Entschädigungs- und Schwerbehindertenrecht) zugewiesen. Seit dem 1. Juli 2007 war er stellvertretender Vorsitzender des für das Arbeitsförderungsrecht und die Sozialhilfe zuständigen 7. und 8. Senats des Bundessozialgerichts, von 1998 bis 2007 zudem Vorsitzender des Richterrats des Bundessozialgerichts. Seit 2008 ist er Vorsitzender des für die gesetzliche Krankenversicherung zuständigen 1. Senats des Bundessozialgerichts.

Peter Masuchs wissenschaftliches Interesse wird durch zahlreiche Veröffentlichungen dokumentiert. Er ist unter anderem langjähriger Mitarbeiter am „Gemeinschaftskommentar SGB III“ und Bandherausgeber des Hauck/Noftz, SGB IX. Hervorzuheben ist sein ausgeprägtes ehrenamtliches soziales Engagement, das er seit 1987 in der „Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung“, seit 2004 als Mitglied im Bundesvorstand, verfolgt. Gemeinsam mit Bischof Martin Hein hob er 2012 das Evangelische Juristenforum des Bundessozialgerichts und der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck als eine bundesweite Plattform für Diskussionen im Schnittfeld von Recht und Theologie aus der Taufe. Er begleitete die Gründung des gemeinsamen Forschungsverbunds zwischen der Universität Kassel und der Hochschule Fulda zu Fragen des Sozialrechts und der Sozialpolitik. Er ist Mitherausgeber der Denkschrift „60 Jahre Bundessozialgericht“.

Dr. Rainer Schlegel

Dr. Rainer Schlegel, geboren 1958 in Balingen und aufgewachsen in Albstadt (Baden-Württemberg), studierte Rechtswissenschaften in Tübingen, wo er im Juni 1983 seine erste juristische Staatsprüfung ablegte und auch promovierte. Nach der zweiten juristischen Staatsprüfung in Stuttgart begann er im April 1987 seine richterliche Laufbahn in der Sozialgerichtsbarkeit des Landes Baden-Württemberg, zunächst am Sozialgericht Stuttgart. Es folgten Abordnungen als wissenschaftlicher Mitarbeiter an das Bundessozialgericht von Januar 1991 bis Dezember 1992 und ‑ nach seiner Ernennung als Richter am Landessozialgericht ‑ von Juli 1994 bis Dezember 1996 an das Bundesverfassungsgericht.

1997 wurde Dr. Schlegel zum Richter am Bundessozialgericht ernannt. Seine Ernennung zum Vorsitzenden Richter am Bundessozialgericht erfolgte am 1. August 2008. Er war von Juli 2002 bis Juni 2006 von den Richterinnen und Richtern des Bundessozialgerichts gewähltes Mitglied des Präsidialrats und Mitglied des Präsidiums ab Januar 2009.

Im April 2010 wechselte Dr. Schlegel in das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und war dort als Leiter der Abteilung „Arbeitsrecht und Arbeitsschutz“ unter anderem zuständig für Arbeitsrecht, Arbeitsschutz, unternehmensbezogene Aktivitäten einer zukunftsgerechten Arbeitswelt sowie Fragestellungen der gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen. Seine Beurlaubung als Richter endete im Dezember 2013. Seit Januar 2014 führt er den Vorsitz im 9./10. Senat (unter anderem Soziales Entschädigungsrecht, Schwerbehindertenrecht, Elterngeld) sowie im 11. Senat (Arbeitslosenversicherung) des Bundessozialgerichts. Am 9. Juli 2014 hat er das Amt des Vizepräsidenten des Bundessozialgerichts übernommen.

Dr. Schlegel ist seit 2005 Honorarprofessor an der Justus-Liebig-Universität Gießen und wissenschaftlich durch zahlreiche Veröffentlichungen und Vorträge zu sozial-, arbeits- und verfassungsrechtlichen Themen sowie zu Fragen des internationalen und europäischen Sozial- und Arbeitsrechts hervorgetreten. In diesem Tätigkeitsfeld hat er sich unter anderem mit der Bedeutung des Solidaritätsgedankens in der Sozialversicherung, den Aspekten der Rückwirkung und des Vertrauensschutzes bei übergangsrechtlichen Regelungen im Sozialrecht, der Indienstnahme des Arbeitgebers in der Sozialversicherung sowie dem Verhältnis von Subventionen im Arbeitsverhältnis und dem europarechtlichen Beihilfeverbot befasst. Seit 2009 ist er Vorsitzender des Vorstands des Deutschen Sozialrechtsverbandes.

Hintergrund

Das Bundessozialgericht in Kassel ist einer der fünf obersten Gerichtshöfe des Bundes (Artikel 95 Absatz 1 Grundgesetz). Seinen 14 Senaten gehören 43 Richterinnen und Richter an. Insgesamt sind dort rund 220 Menschen beschäftigt. Das Bundessozialgericht entscheidet als letzte Instanz über Streitigkeiten insbesondere aus den Bereichen der Sozialversicherung (gesetzliche Kranken-, Unfall-, Pflege- und Rentenversicherung, Arbeitslosenversicherung), der Grundsicherung für Arbeitsuchende, der Sozialhilfe und des sozialen Entschädigungsrechts.

BSG, Pressemitteilung v. 31.08.2016

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