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71. Deutscher Juristentag in Essen 2016: Beschlüsse der Abteilung „Öffentliches Recht“

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Gesetz_Fotolia_15075152_S_copyright - pass IIDer 71. Deutsche Juristentag, dessen Beschlüsse just veröffentlicht wurden, fand vom 13.-16.09.2016 in Essen statt. Die Abteilung „Öffentliches Recht“ widmete sich unter dem Vorsitz von Vors. Richter am OVG Prof. Dr. Max-Jürgen Seibert, Münster/Bonn, und dem Stv. Vorsitzenden Prof. Dr. Wolfgang Kahl, M. A., Heidelberg, dem „Funktionswandel in der Verwaltungsgerichtsbarkeit unter dem Einfluss des Unionsrechts – Umfang des Verwaltungsrechtsschutzes auf dem Prüfstand“. Als Gutachter wirkte Prof. Dr. Klaus F. Gärditz, Bonn, als Referenten fungierten RA Prof. Dr. Martin Beckmann, Münster, Prof. Dr. Annette Guckelberger, Saarbrücken, und Präsident des BVerwG Prof. Dr. Dr. h. c. Klaus Rennert, Leipzig/Freiburg.

Vor dem Hintergrund unionsrechtlicher Entwicklungen insbesondere im Bereich des Umweltrechts wurden Grundpfeiler und zentrale Weichenstellungen im deutschen Verwaltungsprozessrecht hinterfragt. Die Abteilung umschreibt ihr Thema wie folgt:

Prägend für das deutsche Verwaltungsprozessrecht ist das Modell des Individualrechtsschutzes. Die Kontrolle der Verwaltung durch die Verwaltungsgerichte beschränkt sich grundsätzlich auf die Prüfung, ob subjektiv-öffentliche Rechte der Kläger verletzt sind.

Dieses Modell gerät zunehmend unter Anpassungsdruck durch das Unionsrecht. Insbesondere im Umweltrecht wird die subjektive Rechtsschutzfunktion erweitert um Elemente einer objektiven Verwaltungskontrolle; dies gilt für die altruistische Verbandsklage, aber auch für die Erweiterung von Klagerechten Privater. Zugleich wird als Ausgleich eine Einschränkung der Kontrollintensität gefordert. Dieser Funktionswandel scheint nicht auf das Umweltrecht beschränkt. Inwieweit müssen wir uns mit einem allgemeinen Systemwechsel in der Verwaltungsgerichtsbarkeit auseinandersetzen? Soll der Gesetzgeber die verwaltungsgerichtliche Kontrollfunktion vom Individualrechtsschutz mit grundsätzlich umfassender Kontrollintensität in Richtung auf eine objektive Verwaltungskontrolle mit geringerer Kontrolldichte verschieben?

Damit werden Grundpfeiler und zentrale Weichenstellungen im Verwaltungsprozessrecht hinterfragt:

  • Sollte die Verwaltungsgerichtsbarkeit über den Schutz subjektiver Rechte hinaus stärker eine objektive Verwaltungskontrolle – ähnlich dem romanischen Recht – ausüben?
  • Ist eine Erweiterung der Klagerechte von Bürgern und/oder Verbänden empfehlenswert?
  • Lassen sich etwaige Kontrollerweiterungen in das subjektive Rechtsschutzkonzept einfügen?
  • Stößt die Verwaltungsgerichtsbarkeit damit nicht an ihre Leistungsgrenzen?
  • Sollte als „Kompensation“ die Kontrolldichte reduziert werden?
  • Sollte die Amtsermittlung in das Ermessen des Verwaltungsgerichts gestellt werden?
  • Sollte die verwaltungsgerichtliche Kontrolle auf die vom jeweiligen Kläger vorgetragenen Rügen rechtlicher und/oder tatsächlicher Art beschränkt werden?
  • Würde mit einer Ausdehnung der Verwaltungskontrolle ein Legitimationsproblem im Gewaltenteilungsgefüge entstehen?“

Nachfolgend finden Sie die Beschlüsse der Abteilung „Öffentliches Recht“. Die Beschlüsse aller sechs Abteilungen finden Sie hier (PDF).

Ass. iur. Klaus Kohnen

Beschlüsse

I. Grundsätzliches

1. Verfassungsrechtlich garantierter Kern des deutschen Verwaltungsprozesses ist der Schutz materieller subjektiv-öffentlicher Rechte. Dieser Schutzauftrag entspricht Art. 47 Grundrechte-Charta und der Rechtsprechung des EuGH.
angenommen 36:0:0

2. Eine auf Individualrechtsschutz austarierte Klagebefugnis sichert die Primärfunktion der Verwaltungsgerichte, wirksamer Schutzschild des Einzelnen gegen die öffentliche Gewalt zu sein, und ist daher beizubehalten. Die Interessentenklage als allgemeines Modell empfiehlt sich nicht.
angenommen 38:0:0

3. Ergänzungen des Individualrechtsschutzes um objektive Kontrollverfahren

a) bedürfen einer besonderen rechtfertigenden Begründung,
angenommen 38:0:1

b) sollten bereichsspezifisch erfolgen.
angenommen 37:5:0

4. Subjektive Rechte sind in der Regel nur dort materiell gerechtfertigt, wo individuelle Betroffenheiten in Rede stehen. Ansprüche privater Kläger auf Durchsetzung von Kollektivinteressen sollten vermieden werden.
angenommen 39:0:1

5. Die Schutznormtheorie ist hinreichend flexibel, um auch ein weites Verständnis subjektiver Rechte zu bewältigen.
angenommen 39:0:2

6. Deutschland sollte das subjektive Rechtsschutzmodell rechtsvergleichend und rechtspolitisch (insbesondere im Rahmen der europäischen Rechtsetzung und in der Prozessvertretung vor dem EuGH) offensiv vertreten.
angenommen: 37:1:3

II. Zugang zu Gericht

7. Individuelle Betroffenheiten sind nicht auf den Bereich der Gefahrenabwehr beschränkt. Auch Vorschriften zur Risiko- und Gefahrenvorsorge können Individualrechtsschutz vermitteln. Der Gesetzgeber sollte dies in den jeweiligen Fachgesetzen klarstellen.
angenommen: 37:2:0

8. Soweit die Einführung einer objektiven, nicht kontradiktorischen Feststellungsklage für erforderlich gehalten wird (z.B. im Datenschutzrecht im Anschluss an die Safe-Harbor-Entscheidung des EuGH), sollte dies bereichsspezifisch erfolgen.
angenommen: 37:2:3

9. An dem Grundsatz der Spiegelbildlichkeit von Klagebefugnis (vgl. § 42 Abs. 2 VwGO) und Begründetheitsprüfung (vgl. § 113 Abs. 1 S. 1, Abs. 5 S. 1 VwGO) ist festzuhalten.
angenommen 41:0:0

10.

a) Anerkannten Umwelt- und Naturschutzverbänden sollte vom Gesetzgeber ein Klagerecht gegen jede staatliche Entscheidung eingeräumt werden, die dem Anwendungsbereich der UVP-Richtlinie oder der IVU-Richtlinie (IE-Richtlinie) unterfällt.
angenommen: 25:10:7

b) Der Verband sollte die Verletzung derjenigen Vorschriften des objektiven Rechts rügen dürfen, zu deren Schutz er nach seiner Satzung gegründet und anerkannt wurde.
angenommen: 31:4:7

11. Vergleichbare Klagerechte für anerkannte Verbände kommen in anderen Rechtsgebieten nur ausnahmsweise in Betracht, wenn der Rechtsschutz strukturelle Kontrolldefizite aufweist.
angenommen 35:2:5

11a. Es bedarf einer allgemeinen Rahmenregelung zur Verbandsklage in der VwGO (z. B. in einem besonderen Abschnitt),
angenommen 26:14:1

12. Es sollten jedoch keine prokuratorischen Verbandsrechte eingeführt werden. Vielmehr sollten Verbandsklagen unabhängig von einer subjektiven Rechtsverletzung über die Öffnungsklausel (§ 42 Abs. 2 Hs. 1 VwGO) ermöglicht werden.
angenommen 39:0:3

13. Für anerkannte Verbände sollten die gleichen prozessualen Grundsätze wie für Individualkläger gelten. Dies gilt etwa für die Klage-, Klagebegründungs- und Rechtsmittelfristen, die Substantiierungsanforderungen oder den Untersuchungsgrundsatz.
angenommen 38:4:0

14. In mehrpoligen Prozessen wird der Genehmigungsinhaber freiheitsrelevanten Prozessrisiken und Zeitverlusten ausgesetzt. Sein Interesse an zeitnaher Rechtssicherheit sollte bei der Schaffung und Ausgestaltung von Klagerechten berücksichtigt werden.
angenommen 38:0:3

III. Kontrollvoraussetzungen und gesetzgeberische Konkretisierungsverantwortung

15. Eine hinreichende materielle Regelungsdichte hält die Rechtsanwendung transparent und kontrollierbar, was für ein rechtsstaatliches Verwaltungsrecht unverzichtbar ist. Die materielle Programmierung der Verwaltung sollte daher nicht einseitig zu Gunsten einer Prozeduralisierung zurückgenommen werden.
angenommen: 42:0:0

16. Der Gesetzgeber sollte in geeigneten Fällen ausdrücklich regeln,

a) ob und inwieweit eine Vorschrift des materiellen Rechts Individualrechtsschutz einräumt,
angenommen 31:9:2

b) ob und inwieweit bei der Anwendung einer Vorschrift des materiellen Rechts den zuständigen Behörden ein Beurteilungsspielraum eingeräumt wird,
angenommen 26:11:5

c) ob und inwieweit Verfahrensvorschriften ein subjektives Recht vermitteln,
angenommen 34:8:0

d) welche Verfahrensfehler unabhängig davon, ob eine Beeinflussung der Entscheidung in der Sache nachgewiesen werden kann, zu einem Erfolg der Klage führen.
angenommen 29:10:2

17. Bei der Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe sollte der Gesetzgeber prüfen, ob und inwieweit es im Interesse der Vollzugstauglichkeit sinnvoll oder geboten sein kann, die Wirksamkeit seiner Regelung von dem Inkrafttreten einer untergesetzlichen Normenkonkretisierung abhängig zu machen.
angenommen 23:16:3

IV. Prozessstoff und Umfang der gerichtlichen Kontrolle

18.

a) Ein partieller Rückbau der Kontrolldichte zu Gunsten einer stärkeren behördlichen Eigenverantwortung ist zu empfehlen.
abgelehnt 12:27:3

b) Eine hohe Kontrolldichte durch eine neutrale, vom Entscheidungsgegenstand distanzierte und institutionell unabhängige Justiz ist ein rechtsstaatlicher Eigenwert. Am Anspruch auf Vollkontrolle ist daher auch in komplexen Gebieten wie z.B. dem Umwelt-, Wirtschaftsverwaltungs- oder Regulierungsrecht grundsätzlich festzuhalten.
angenommen 34:4:4

19. Um eine Konzentration auf das Wesentliche zu ermöglichen und so die Kontrollressourcen gezielter wie effektiver einzusetzen, wird empfohlen, die Erforschung des Sachverhalts von Amts wegen (§ 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO) in das pflichtgemäße Ermessen des Verwaltungsgerichts zu stellen.
abgelehnt 6:36:0

20. Die Regelung des § 4 Abs. 1a S. 2 Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz („Lässt sich durch das Gericht nicht aufklären, ob ein Verfahrensfehler … die Entscheidung in der Sache beeinflusst hat, wird eine Beeinflussung vermutet.“) sollte durch entsprechende Änderung des § 46 VwVfG auf andere Verfahrensfehler ausgedehnt werden.
angenommen 20:17:5

21.

a) Durch Bundesgesetz sollte eine staatliche Gutachtenstelle für Umweltschutz auf Bundesebene eingerichtet werden, die institutionell unabhängig ist und deren Mitglieder sachlich unabhängig sowie auf die Wahrung des Gemeinwohls besonders verpflichtet sind. Die Gutachtenstelle kann entweder sachverständige Gutachten mit gesetzlich erhöhter Validität selbst erstatten oder in Auftrag geben oder die methodische Validität anderer Sachverständigengutachten attestieren.
angenommen 22:12:7

b) Vorhabenträger sollten unter bestimmten Voraussetzungen die für den Genehmigungsantrag erforderlichen Sachverständigengutachten, namentlich zu den Umweltauswirkungen des Vorhabens, durch diese Gutachtenstelle erstatten, in Auftrag geben oder hinsichtlich ihrer methodischen Validität attestieren lassen.
angenommen 22:13:7

c) Die Gutachten und Atteste dieser staatlichen Gutachtenstelle haben für die Genehmigungsbehörde und das Gericht keine rechtlich bindende Wirkung. Ihre gesetzliche und institutionelle Fundierung verschafft ihnen aber eine erhöhte Legitimität und in der Folge erhöhte Beweiskraft.
angenommen 27:6:7

22. Die Bundesregierung sollte sich auf völkervertraglicher und europäischer Ebene für die Zulässigkeit einer materiellen Präklusion einsetzen, unter der Voraussetzung hinreichend langer Einwendungsfristen und nicht zu hoher Anforderungen an den Einwendungsinhalt.
angenommen 35:2:5

23.

a) Zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der gerichtlichen Verwaltungskontrolle in umwelt- und planungsrechtlichen Sachen sollte generell – für die Verletztenklage wie für die Verbandsklage – eine gesetzliche Pflicht zur Klagebegründung binnen einer Frist von vier Monaten eingeführt werden, die im selben Zeitpunkt wie die einmonatige Klageerhebungsfrist zu laufen beginnt. Die Frist kann vom Gericht nach den aus dem Rechtsmittelrecht bekannten Regeln verlängert werden; ein Fristverlängerungsgrund liegt namentlich dann vor, wenn einem innerhalb der Klageerhebungsfrist gestellten Antrag auf Akteneinsicht nicht rechtzeitig entsprochen wurde. Verspäteter Vortrag ist aber generell zurückzuweisen, sofern die Verspätung nicht entschuldigt wird; auf eine Verzögerung kommt es nicht an (innerprozessuale Präklusion).
angenommen 37:3:1

b) Die innerprozessuale Präklusion beseitigt die Ermittlungspflicht des Gerichts, nicht aber seine Befugnis zur Sachaufklärung von Amts wegen.
angenommen 38:1:2

24. Nach § 87b VwGO kann den Beteiligten eine gerichtliche Frist zur Angabe von bestimmten Tatsachen oder Beweismitteln gesetzt werden. Die Zurückweisung von verspätetem Vortrag sollte nicht mehr davon abhängig gemacht werden, ob weitere gerichtliche Ermittlungen die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würden.
angenommen 37:4:0

25. Der Gesetzgeber sollte in Rechtsstreitigkeiten, über die nach § 48 Abs. 1 VwGO das Oberverwaltungsgericht im ersten Rechtszug entscheidet, die rechtzeitige Durchführung eines Erörterungstermins nicht lediglich in das Ermessen des Gerichts stellen (§ 87 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 VwGO), sondern obligatorisch vorschreiben.
angenommen 22:17:3