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Höchstrichterliche Neuigkeiten zur Vertretungsmacht des ersten Bürgermeisters nach Art. 38 Abs. 1 GO

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kommunales_fotolia_95172673_s_copyright-passvon Prof. Dr. Josef Franz Lindner und Alexander Bast, Universität Augsburg

I. Einleitung

Nach Art. 38 Abs. 1 der Gemeindeordnung für den Freistaat Bayern (GO) vertritt der erste Bürgermeister (nachfolgend: Bürgermeister) die Gemeinde nach außen. Trotz des vermeintlich eindeutigen Wortlauts ist umstritten, ob Art. 38 Abs. 1 GO dem Bürgermeister im Außenverhältnis nur ein Vertretungsrecht oder auch eine umfassende Vertretungsmacht zuspricht.[1] Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hatte sich zunächst in einem Urteil vom 08.12.1959[2] der (wohl) vorherrschenden Meinung in Bayern[3] angeschlossen, wonach Art. 38 Abs. 1 GO lediglich die Zuständigkeit für die gemeindliche Außenvertretung regelt, dem Bürgermeister jedoch keine (inhaltliche) Vertretungsmacht verleiht. Für die Wirksamkeit von Rechtsgeschäften gegenüber Dritten, die nicht in den originären Zuständigkeitsbereich des Bürgermeisters gem. Art. 37 GO fallen, benötigte dieser daher einen entsprechenden Beschluss des Gemeinderats.[4]

Die umstrittene Rechtsfrage hat aufgrund einer aktuellen Entwicklung wieder an Relevanz gewonnen. Denn der 5. Zivilsenat des BGH möchte von der genannten Rechtsprechung des 2. Senats des BAG abweichen und hat in einem Beschluss vom 18.03.2016[5] entschieden, die Frage dem BAG zur Stellungnahme vorzulegen. Eine solche Vorlage ist statthaft, weil nach § 11 Abs. 3 Satz 1 des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (RsprEinhG) eine Vorlage an den Senat, von dessen Rechtsprechung abgewichen werden soll, notwendig ist, um eine Entscheidung des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe herbeizuführen – sollte das BAG an seiner Rechtsprechung festhalten.

Der zweite Senat des BAG hat nunmehr am 22.06.2016[6] per Beschluss entschieden, dass er seine Rechtsansicht aus dem Urteil vom 08.12.1959 verwirft und der Auffassung des BGH zu folgen gedenkt. Der Beschluss des BAG ist dabei vor allem in Bayern beachtenswert, da hiermit die obersten Bundesgerichte nicht mehr die (wohl noch) herrschende Meinung in Bayern teilen, wonach Art. 38 Abs. 1 GO eine Zuständigkeitsnorm darstellt, die die Wirksamkeit des rechtsgeschäftlichen Handelns des Bürgermeisters außerhalb des Art. 37 GO von einem Gemeinderatsbeschluss abhängig macht.

Die Auslegung des Art. 38 Abs. 1 GO spielt dabei sowohl für die ordentlichen Gerichte als auch für die Verwaltungsgerichtsbarkeit eine Rolle. Im Rahmen des Zivilrechts ist die Vertretungsmacht z.B. beim Abschluss von Arbeitsverträgen mit der Gemeinde als Dienstherr relevant.[7] Bezogen auf das öffentliche Recht kommt es auf die Vertretungsmacht des Bürgermeisters beispielsweise dann an, wenn es um die ordnungsgemäße Klageerhebung bei einem Aktivprozess der Gemeinde vor dem Verwaltungsgericht geht oder um die Wirksamkeit eines öffentlich-rechtlichen Vertrages nach Art. 54 ff. BayVwVfG.

Gerade weil das BAG nun von seiner vormalig vertretenen Ansicht abweicht, bietet die Vorlage eine Gelegenheit, sich mit der zugrundeliegenden Rechtsfrage auseinanderzusetzen. Im Folgenden wird erläutert, welche Argumente für eine beschränkte Außenvertretungsmacht im Sinne einer bloßen Vertretungskompetenz des Bürgermeisters sprechen könnten (II.) oder ob eine umfassende, also von den Kompetenzverteilungsnormen der Art. 29, 37 GO gelöste Vertretungsmacht sachgerechter erscheint (III.).

II. Art. 38 Abs. 1 GO als reines Vertretungsrecht (Vertretungskompetenz)

In ständiger Rechtsprechung[8] verneinen sowohl die bayerischen Gerichte als auch Teile der bayerischen Literatur[9] eine umfassende Vertretungsmacht des Bürgermeisters, gestehen ihm also nur eine Vertretungskompetenz, eine bloße Vertreterstellung zu.[10] Art. 38 Abs. 1 GO begründe lediglich ein Vertretungsrecht im Außenverhältnis, nicht jedoch eine Vertretungsmacht im Innenverhältnis. Der Regelungsgehalt der Vorschrift soll sich demnach in einer Zuständigkeitszuweisung erschöpfen. Davon ausgenommen sind die laufenden Angelegenheiten nach Art. 37 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 GO, die ohnehin in die originäre Zuständigkeit des Bürgermeisters fallen. Hierbei handelt es sich um ständig wiederkehrende Geschäfte des täglichen Lebens, die für die Gemeinde nicht von finanzieller Bedeutung sind. Soweit dagegen der Gemeinderat als willensbildendes Organ der Gemeinde entscheidet (Art. 29 GO), wird die Vertretungsmacht des Bürgermeisters nicht bereits durch Art. 38 Abs. 1 GO, sondern erst durch einen entsprechenden Gemeindesratsbeschluss begründet.[11] Die Vertretungsmacht des Bürgermeisters ist somit durch die Entscheidungszuständigkeit des Gemeinderats nach Art. 29, Art. 30 Abs. 2 GO als Hauptorgan beschränkt. Der Bürgermeister fungiert als Vollzugsorgan der Gemeinde (Art. 36 Abs. 1 GO). Nimmt er für die Gemeinde im Rechtsverkehr als Vertreter ohne Vertretungsmacht (sog. falsus procurator) teil, ergibt sich die Rechtsfolge aus §§ 177 ff. BGB, wonach die getätigten Rechtsgeschäfte schwebend unwirksam sind, bis sie der Gemeinderat nachträglich per Beschluss genehmigt.

III. Art. 38 Abs. 1 GO als umfassende Vertretungsmacht

Neben einigen Stimmen in der Literatur[12] gehen nun auch der 5. Zivilsenat des BGH und der 2. Senat des BAG davon aus, dass Art. 38 Abs. 1 GO nicht nur eine akzessorische Vertretungskompetenz, sondern eine unbeschränkte Vertretungsmacht nach außen normiert. Dafür spricht vor allem, dass der Wortlaut der Norm (Art. 38 Abs. 1 GO: „Der erste Bürgermeister vertritt die Gemeinde nach außen.“) keine Einschränkung vornimmt. Dies wird weiter dadurch bekräftigt, dass die amtliche Überschrift des Art. 38 GO von einer „Vertretung der Gemeinde nach außen“ spricht.

Einen anderen Schluss scheint auch die Systematik der bayerischen Gemeindeordnung nicht zuzulassen. Art. 37 GO regelt nach seiner Überschrift die Zuständigkeit des Bürgermeisters. Mit Blick auf Art. 29 GO, der den Bürgermeister und den Gemeinderat als gleichwertige Hauptorgane nebeneinanderstellt, spricht einiges dafür, Art. 37 GO als gemeindeinterne Kompetenzverteilungsnorm zu betrachten, die keine Regelung hinsichtlich der Außenvertretung trifft; hierfür ist Art. 38 Abs. 1 GO die speziellere und abschließende Regelung. In der Gesamtbetrachtung der Normen ist diese Interpretation schlüssig, da Art. 38 Abs. 1 GO sich ausdrücklich auf den Außenbereich bezieht, während hingegen bei Art. 37 GO ein solcher Hinweis fehlt.

Entscheidend für eine umfassende Vertretungsmacht spricht das Bedürfnis nach Rechtssicherheit und Verkehrsschutz. Nicht selten ist der Bürger Erklärungsempfänger gemeindlichen Handelns. Da ihm gegenüber ein Hoheitsträger tätig wird, muss sich der Bürger – schon wegen des Rechtsstaatsprinzips aus Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BV – berechtigterweise auf die kompetenzmäßige Rechtmäßigkeit des hoheitlichen Handelns verlassen dürfen. Wer mit dem gewählten Bürgermeister einer Gemeinde in Rechtsbeziehungen tritt, muss darauf vertrauen können, dass dieser zu dem entsprechenden rechtlich relevanten Handeln befugt ist. Besonders deutlich wird dieser Zusammenhang, wenn man sich die Folgen für den Erklärungsempfänger vor Augen führt, wenn die Gemeinde das Handeln des Bürgermeisters nicht nachträglich genehmigt.

Der Gemeinde bleibt es indes unbenommen, beamtenrechtliche Konsequenzen einzuleiten bzw. Schadensersatzforderungen gegenüber dem Bürgermeister geltend zu machen. Die sonst im Zivilrecht geltenden Institute der Anscheins- bzw. Duldungsvollmacht finden im öffentlichen Recht nur eingeschränkt Anwendung. Zwar muss sich auch grundsätzlich eine öffentlich-rechtliche Körperschaft an einem im Rechtsverkehr gesetzten Rechtsschein festhalten lassen, jedoch darf dies auf öffentlich-rechtlicher Ebene nicht dazu führen, dass im öffentlichen Interesse liegende Zuständigkeitsregelungen, Genehmigungserfordernisse oder Vorschriften ausgehöhlt werden.[13]

Schadensersatzansprüche aus einer vorvertraglichen Pflichtverletzung dürften wohl selten zielführend sein, weil dadurch nur das negative Interesse geschützt wäre. Ein entgangener Gewinn könnte daher nicht geltend gemacht werden.[14]

IV. Fazit

Das BAG hat sich entschieden, der Rechtsauffassung des BGH zu folgen. In der Rechtsprechung des BGH ist für andere Bundesländer eine umfassende Vertretungsmacht des Bürgermeisters bereits anerkannt.[15] Dem schloss sich auch das BAG für die Länder Baden-Württemberg[16] und Sachsen[17] an.

In seinem Beschluss vom 22.08.2016[18] bezieht sich das BAG inhaltlich weitgehend auf die bereits in der Vorlage vom BGH angesprochenen Ausführungen. Das BAG betont, dass die Annahme einer umfassenden Vertretungsmacht vor allem aus Gründen der Rechtssicherheit und des Verkehrsschutzes notwendig sei. Dabei stellt das BAG auch klar, dass gewohnheitsrechtliche Überlegungen nicht entgegenstünden, da es bereits zweifelhaft sei, ob dieses durch „Richterrecht“ bzw. die gerichtliche Auslegung von Rechtsnormen überhaupt begründet werden könne, ohne allerdings näher auf diese Problematik einzugehen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass im Vergleich zu den Gemeindeordnungen anderer Bundesländer[19] die bayerische Regelung keine Besonderheiten aufweist, die eine abweichende Auslegung der Vertretungsbefugnis in Bayern rechtfertigen könnten.

Um eine unter Umständen divergierende Rechtsprechung von Verwaltungs- und ordentlichen Gerichten zu vermeiden, erscheint die traditionelle Auslegung des Art. 38 GO in Bayern nicht mehr vorzugswürdig, da die einschränkende Anwendung der Norm sich nicht mit dem Wortlaut vereinbaren lässt und in unbilliger Weise dem Bürger das Risiko einer fehlerhaften Vertretung auferlegt. Es spricht daher mit dem BGH und dem BAG vieles dafür, dass Art. 38 Abs. 1 GO nicht nur eine kompetenzakzessorische Vertretungsbefugnis, sondern eine umfassende Vertretungsmacht des Bürgermeisters regelt.

Net-Dokument: BayRVR2016111401 (über die ohne Leerzeichen einzugebende Net-Dokumenten-Nummer ist der Beitrag über die BayRVR-interne Suche und i.d.R. auch über Google jederzeit eindeutig identifizierbar und direkt aufrufbar) 

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Redaktionelle Anmerkung

01_Prof. Lindner_passProf. Dr. Josef Franz Lindner ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Medizinrecht und Rechtsphilosophie an der juristischen Fakultät der Universität Augsburg und geschäftsführender Direktor des Instituts für Bio-, Gesundheits- und Medizinrecht.

Beiträge des Autors

bast_a-_passAss. iur. Alexander Bast ist Wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl.

Beiträge des Autors

 

 


[1] Vgl. BAG, Urt. v. 08.12.1959 – 3 AZR 348/56; OLG München, Beschl. v. 28.01.2013 – 34 Wx 390/12.

[2] Vgl. BAG, Urt. v. 08.12.1959 – 3 AZR 348/56.

[3] Vgl. BayVGH in: BayVBl. 2012, S. 177 Rn. 30 m.w.N.; Steiner in: Berg/Knemeyer/Papier/Steiner, Staats- und Verwaltungsrecht in Bayern, 6. Aufl. 1996, S. 137, 145.

[4] Vgl. BAG, Urt. v. 08.12.1959 – 3 AZR 348/56.

[5] Vgl. BGH, Beschl. v. 18.03.2016 – V ZR 266/14.

[6] BAG, Beschl. v. 22.08.2016 – 2 AZB 26/16.

[7] Oder wie im zu Grunde liegenden Fall des 5. Zivilsenats des BGH: Die Pfandfreigabe an einer Rohrleitungstrasse.

[8] BayOLG in: BayVBl. 1973, S. 131; 1974, S. 706; BayVGH in: BayVBl 2012, S. 177 Rn. 30.

[9] Steiner in: Berg/Knemeyer/Papier/Steiner, Staats- und Verwaltungsrecht in Bayern, 6. Aufl. 1996, S. 137, 145 m.w.N.

[10] Dabei spielt die Amtsbezeichnung keine Rolle. Die nachfolgenden Ausführungen gelten gleichermaßen für den Oberbürgermeister (Art. 34 Abs. 1 Satz 2 GO).

[11] Vgl. BayOLG in: BayVBl. 1974, S. 706; BayOLGZ 1974, S. 81 (84).

[12] Vgl. Prandl/Zimmermann/Büchner/Pahlke, Kommunalrecht in Bayern, Stand: März 2015, Art. 38 GO Anm. 1.1; Hölzl/Hien/Huber, Gemeindeordnung mit Verwaltungsgemeinschaftsordnung, Landkreisordnung und Bezirksordnung für den Freistaat Bayern, Stand: Oktober 2013, Art. 38 GO Rn. 2.1.; Lissack, Bayerisches Kommunalrecht, 3. Aufl. 2009, S. 119 ff.

[13] So auch BGH NJW 1972, 940 (941).

[14] Vgl. LG Memmingen, Urt. v. 02.03.2010 – 12 O 2180/08.

[15] Vgl. Baden-Württemberg: BGH, Urt. v. 20.04.1966 – V ZR 50/65, MDR 1966, 669; Rheinland-Pfalz: BGH, Urt. v. 16.11.1978 – III ZR 81/77, NJW 1980, 117, 118; Nordrhein-Westfalen: BGH, Urt. v. 20.09.1984 – III ZR 47/83, BGHZ 92, 164, 169 f.; Saarland: BGH, Urt. v. 06.03.1986 – VII ZR 235/94, BGHZ 97, 224, 226.

[16] Vgl. BAGE 47, 179 (184 f.).

[17] BAG NJW 2002, 1287 (1289).

[18] BAG, Beschl. v. 22.08.2016 – 2 AZB 26/16.

[19] Vgl. § 42 Abs. 1 GO Baden-Württemberg; § 47 Abs. 1 GO Rheinland-Pfalz; § 53 Abs. 1 GO Brandenburg; § 63 Abs. 1 GO NRW stellt sogar ausdrücklich klar, dass die Vertretungsmacht des Bürgermeisters unbeschadet der „…dem Rat und seinen Ausschüssen zustehenden Entscheidungsbefugnisse…“ bestehe.