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Rezension: Schuppli, Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse (Mohr Siebeck 2016)

von Prof. Dr. Josef Franz Lindner, Universität Augsburg

Mit Wirkung vom 01.01.2014 wurde dem Art. 3 Abs. 2 BV ein neuer Satz 2 angefügt, der den Staat verpflichtet,  „gleichwertige Lebensverhältnisse und Arbeitsbedingungen in ganz Bayern, in Stadt und Land“ zu fördern und zu sichern. Damit enthält die Bayerische Verfassung das, was auf der Ebene des Grundgesetzes streitig ist, nämlich ein Staatsziel gleichwertiger Lebensverhältnisse und Arbeitsbedingungen.

Mit dem Gebot der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse unter dem Grundgesetz hat sich zuletzt Wolfgang Kahl kritisch auseinandergesetzt (vgl. dazu die Rezension von Lindner in BayRVR, Net-Dokument BayRVR2016051101). Mit vorliegender, hier anzuzeigender Schrift von Martin Schuppli liegt eine erneute grundlegende Monografie zu diesem Thema vor. Die Arbeit beruht auf einer Dissertation, die im Sommersemester 2015 von der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertation angenommen worden ist. Die Arbeit wurde von Wolfgang Durner betreut. Die Aufnahme des Werkes in die Schriftenreihe zum Infrastrukturrecht, herausgegeben von Wolfgang Durner und Martin Kment, ist schon deswegen sachgerecht, weil das Infrastrukturrecht ein maßgebliches verwaltungsrechtliches Referenzgebiet darstellt, um dem Gebot der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse gerecht zu werden.

Der Titel der Arbeit „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ erweckt zunächst den Eindruck, als ob es dem Verfasser um eine grundsätzliche Aufarbeitung der Thematik im umfassenden Sinne ginge. Dies wäre freilich für eine Dissertation ein zu ambitioniertes Projekt. Die notwendige Eingrenzung der Thematik erfolgt daher durch den Untertitel: „Sozialstaatliches Gebot und Ordnungsidee des Verwaltungsrechts – dargestellt unter besonderer Berücksichtigung des Schulwesens“. Ausgangspunkt der Studie sei es, so der Verfasser zu Eingang seiner Überlegungen, „dass die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse zu den grundgesetzlichen Staatszielen gehört“ (S. 7). Dazu sollen auch verfassungsrechtliche „Grundsätze zur Umsetzung des Staatsziels“ aufgegriffen werden. Aufbauend auf eher allgemein gehaltenen Erwägungen ist es Ziel der Arbeit, zu zeigen, dass die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse als Ziel und Ordnungsidee das gesamte Verwaltungsrecht durchziehe und seine Bedeutung über den Bereich der Raumplanung hinausgehe. Dabei will der Verfasser gemeinsame Strukturen im Bereich des Planungs- und Organisationsrechts suchen und die Bezüge zur Leistungsverwaltung und zur Gewährleistungsverwaltung in den Blick nehmen. Als „Referenzgebiet“ dafür wird das Schulwesen herangezogen.

Demgemäß gliedert sich das Werk in drei Teile. In einem ersten Teil wird eine Einführung in die Fragestellung gegeben und der Gang der Untersuchung skizziert. Der zweite Teil der Arbeit beleuchtet sodann das verfassungsrechtliche Gebot der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse. Der Verfasser unternimmt es dabei, dieses Gebot nach allen Regeln der Kunst und von allen Seiten verfassungsrechtlich zu beleuchten. Letztlich betrachtet der Verfasser das Sozialstaatsprinzip als verfassungsrechtliche Grundlage des Gebots der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse. Der Verfassungsgeber habe aber nicht nur im Sozialstaatsprinzip, sondern auch in Art. 72 Abs. 2, 106 Abs. 3 Satz 4, 91a Abs. 1, 87e Abs. 4 und 87f Abs. 1 GG zum Ausdruck gebracht, dass die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse zu den Geboten des grundgesetzlichen Sozialstaats zähle. Den Begriff der Lebensverhältnisse will der Verfasser im Lichte der Grundrechte auslegen. Unter „Lebensverhältnissen“ sei grundsätzlich die Möglichkeit zu verstehen, von seinen Grundrechten Gebrauch zu machen. Ob dieser Ansatz dogmatisch tragfähig ist, erscheint jedenfalls insoweit zweifelhaft, als die Grundrechte ja auch nach Maßgabe der verschiedenen Vorbehalts- und Schrankenregelungen der Beschränkbarkeit durch den Gesetzgeber unterliegen. Unklar bleibt auch, ob und inwieweit die Interpretation des Begriffs der „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ nach Maßgabe der Grundrechte eine stärkere Akzentuierung der leistungsrechtlichen Dimension der Grundrechte erfordern würde. In diese Richtung scheint der Verfasser zu tendieren, wenn er unter Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse die Verpflichtung meint, „überall die Grundrechtsverwirklichung der Bürger zu ermöglichen“ (S. 339). Weitere Überlegungen des Verfassers sind dem Inhalt des verfassungsrechtlichen Gebots der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse gewidmet. Hierbei geht er auf verfassungsimmanente Grenzen sowie auf das schwierige Problem des Verhältnisses von Gleichwertigkeitsgebot und Kompetenzordnung ein.

Der dritte Teil ist der Frage gewidmet, ob und inwieweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse ein Gegenstandsbereich des Verwaltungsrechts ist. Unzweifelhaft dürfte sein, dass auch die Exekutive einem Staatsziel der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse verpflichtet ist. Es ist daher kaum bestreitbar, die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse als Aufgabe der Verwaltung und damit auch als Gegenstand des Verwaltungsrechts zu betrachten. Die Begriffe der Leistungsverwaltung, der Daseinsvorsorge und der Gewährleistungsverantwortung des Staates sind dafür ebenso Schlüsselwörter wie der Begriff des Gestaltungsspielraums, den die Verwaltung bei der Verwirklichung dieser Ziele hat. Exemplarisch zeigt der Verfasser dies am Beispiel des Schulwesens (S. 125 ff.). Räumliche Schulplanung und Schulentwicklungsplanung sind diesbezüglich ebenso Stichworte wie das Gebot einer flächendeckenden Schulversorgung, die zumutbare Entfernung von Bildungseinrichtungen, die Anerkennung von „Zwergschulen“ sowie der jahrgangsübergreifende Unterricht. Hier stellen sich der Schulverwaltung – zumal in einem Flächenstaat – schwierige Planungs- und Organisationsaufgaben, nicht zuletzt auch anspruchsvolle finanzielle Herausforderungen. Der Verfasser exemplifiziert seine diesbezüglichen Erwägungen am Beispiel des nordrhein-westfälischen Schulrechts. Seine Ausführungen lassen sich aber cum grano salis wohl auch auf das bayerische Schulwesen anwenden. Nicht beleuchtet wird die – spannende – Frage, in welchem Verhältnis Schulentwicklungsplanung und Schulorganisationsentwicklung zu materiellen schulrechtlichen und bildungspolitischen Fragen stehen. Letztlich lässt sich wohl eine Schulorganisationsplanung, die dem Gebot der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse gerecht wird, nicht ohne weiteres von den materiellen Strukturen des Schul- und Bildungswesens trennen (Stichwort: Gesamtschule). Die diesbezüglich notwendige Analyse der Beziehungen von Inhalt und Form, von Struktur und Organisation des Schulwesens hätte das Format der vorliegenden Dissertation freilich gesprengt. Allerdings hätte der Verfasser Raum für solche Erwägungen im Grundsätzlichen dadurch gewinnen können, dass er darauf verzichtet hätte, auch noch andere Referenzbereiche des Verwaltungsrechts vor dem Hintergrund zu beleuchten, ob und inwieweit sie einen Beitrag zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse leisten können. So befasst sich der Verfasser neben dem Schulwesen auch noch mit Gebietsreformen (S. 235 ff.), mit der Gewährleistungs- und Regulierungsverwaltung (am Beispiel des Post- und Telekommunikationswesens, S. 259 ff.) sowie mit der Energieversorgung (S. 287 ff.), der Krankenhausversorgung (S. 292 ff.) und der Gesundheitsversorgung (S. 298 ff.). Dies sind zwar – unzweifelhaft – wichtige Referenzgebiete des Verwaltungsrechts im Zusammenhang mit dem Staatsziel der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse, sie überfrachten die Dissertation jedoch, da angesichts der Vielfalt an Referenzgebieten ein wenig der rote Faden verloren geht.

Fazit: Insgesamt handelt es sich um eine lesenswerte Studie sowohl zu den Grundlagen des Gebots der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse als auch zu speziellen Umsetzungsbereichen. Insgesamt hätte es der Arbeit gut getan, wenn sie sich bei der Darstellung der speziellen Instrumentarien des Verwaltungsrechts wirklich – wie es der Untertitel nahelegt – auf das Schulwesen beschränkt hätte.

Martin Schuppli, Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse. Sozialstaatliches Gebot und Ordnungsidee des Verwaltungsrechts – dargestellt unter besonderer Berücksichtigung des Schulwesens. Mohr Siebeck 2016, Schriften zum Infrastrukturrecht, Band 5; XXVIII, 384 S., fadengeheftete Broschur, € 74,00, ISBN 978-3-16-154157-5

Net-Dokument BayRVR2017022001; Titelfoto: (c) bogdanvija – Fotolia.com

Anmerkung der Redaktion

Prof. Dr. Josef Franz Lindner ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Medizinrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Augsburg sowie geschäftsführender Direktor des Instituts für Bio-, Gesundheits- und Medizinrecht. Der Lehrstuhl widmet sich dem Öffentlichen Recht in der gesamten Breite, den philosophischen Grundlagen des Rechts sowie dem Bio-, Medizin- und Gesundheitsrecht. Der Verfasser kommentiert in der in Entstehung begriffenen Neuauflage des Lindner/Möstl/Wolff, Kommentar zur Verfassung des Freistaates Bayern, den neuen Art. 3 Abs. 2 Satz 2 BV.

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