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BVerwG: Ersatz von Aufwendungen für einen selbstbeschafften Platz in einer Kindertageseinrichtung

Der Träger der öffentlichen Jugendhilfe muss einem Kind einen seinem individuellen Bedarf entsprechenden Betreuungsplatz nachweisen. Versäumt er dies, muss er gleichwohl die Aufwendungen für einen selbstbeschafften Betreuungsplatz nicht übernehmen, wenn diese Kosten von dem Kind bzw. seinen Eltern auch bei rechtzeitigem Nachweis zu tragen gewesen wären. Dies hat das BVerwG in Leipzig heute entschieden.

Die Mutter des im August 2011 geborenen Klägers zeigte bei der Landeshauptstadt München, der Beklagten, an, dass der Kläger ab dem 01.04.2014 einen Vollzeitbetreuungsplatz benötige. Daraufhin wies ihr die Beklagte in ihrer Eigenschaft als Trägerin der öffentlichen Jugendhilfe Ende Januar 2014 freie Plätze bei insgesamt sechs Tagespflegepersonen nach. Die Mutter des Klägers lehnte die Plätze ab, weil diese entweder zu früh schließen würden oder an einem Tag nicht geöffnet seien. Am 05.02.2014 meldeten die Eltern des Klägers diesen in einer privaten Tageseinrichtung an. Auf der Grundlage des Betreuungsvertrages wurde der Kläger ab dem 01.04.2014 in dieser Einrichtung in einem Umfang von 40 Wochenstunden frühkindlich gefördert. Dafür war ein Beitrag von monatlich € 1.380 zu entrichten. Das VG [red. Hinweis: VG München, Urt. v. 21.01.2015 – M 18 K 14.2448] hat die Klage auf Erstattung eines Teils des entrichteten Beitrags abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat der BayVGH das erstinstanzliche Urteil teilweise aufgehoben und insoweit dem Grunde nach Aufwendungsersatz zugesprochen [red. Hinweis: BayVGH, Urt. v. 22.07.2016 – 12 BV 15.719]. Das BVerwG hat das erstinstanzliche Urteil wieder hergestellt.

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Ein Anspruch auf Übernahme der erforderlichen Aufwendungen für einen selbstbeschafften Platz in einer Kindertageseinrichtung kann grundsätzlich aus einer entsprechenden Anwendung des § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII folgen, wenn der Leistungsberechtigte den Träger der öffentlichen Jugendhilfe vor der Selbstbeschaffung rechtzeitig über den Bedarf in Kenntnis gesetzt hat, die Voraussetzungen für die Gewährung der Leistung vorgelegen haben und die Deckung des Bedarfs keinen zeitlichen Aufschub geduldet hat. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht bereits mit Urteil vom 12.09.2013 (BVerwG 5 C 35.12) entschieden.

Die Voraussetzungen dieses Anspruchs waren hier erfüllt. Kinder, die das erste Lebensjahr vollendet haben, haben gemäß § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII bis zur Vollendung ihres dritten Lebensjahres Anspruch darauf, dass der Träger der öffentlichen Jugendhilfe ihnen einen ihrem Bedarf entsprechenden Betreuungsplatz nachweist. Ein Recht, zwischen dem Nachweis eines Platzes in einer Tageseinrichtung und in Kindertagespflege zu wählen, besteht hingegen ebenso wenig wie ein Wahlrecht zwischen einem Platz in einer Einrichtung eines öffentlich-rechtlichen Trägers und einer Betreuung in einer privaten Einrichtung. Der Träger der öffentlichen Jugendhilfe ist bundesrechtlich nicht verpflichtet, dem Kind einen kostenfreien oder zumindest kostengünstigen Betreuungsplatz nachzuweisen. Ob der im Fall seiner Inanspruchnahme zu entrichtende Beitrag im Einzelfall finanziell zumutbar ist, ist nicht Gegenstand des Nachweisverfahrens. Zwar darf der von § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII verliehene Anspruch auf eine möglichst optimale Kinderbetreuung nicht dadurch gefährdet oder gar vereitelt werden, dass die Inanspruchnahme der nachgewiesenen Betreuungsstellen mit unzumutbaren finanziellen Belastungen verbunden wäre. Der Gesetzgeber hat sich aber dafür entschieden, dass die finanzielle Zumutbarkeit erst in einem eigenständigen Verfahren nach § 90 Abs. 3 und 4 SGB VIII zu prüfen ist. Danach soll u.a. ein in einer privaten Einrichtung zu entrichtender Teilnahmebeitrag ganz oder teilweise von dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe übernommen werden, wenn die Belastung dem Kind und den Eltern nicht zuzumuten ist. Bei der Auslegung und Anwendung dieser Bestimmung ist dem Zweck des Anspruchs auf Betreuung nach § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII mit besonderem Gewicht Geltung zu verschaffen.

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Obwohl die Selbstbeschaffung hier zulässig war, kann der Kläger nicht die Übernahme eines Teiles des für die Nutzung der gewählten Tageseinrichtung entrichteten Beitrags verlangen. Der Träger der öffentlichen Jugendhilfe muss nur diejenigen Aufwendungen für einen selbstbeschafften Betreuungsplatz übernehmen, die der Leistungsberechtigte im Falle des rechtzeitigen Nachweises nicht hätte tragen müssen. Hätte die Beklagte dem Kläger den von diesem beschafften Betreuungsplatz nachgewiesen, hätte sie ihrer Nachweispflicht mit der Folge genügt, dass der Kläger den vereinbarten Teilnahmebeitrag ebenfalls hätte entrichten müssen. Ob dieser Beitrag hinsichtlich der Höhe zumutbar war oder nach § 90 Abs. 3 SGB VIII (teilweise) zu übernehmen gewesen wäre, ist nicht Gegenstand dieses Verfahrens.

BVerwG, Pressemitteilung v. 27.10.2017 zum Urt. v. 26.10.2017 – BVerwG 5 C 19.16

Redaktionelle Hinweise

  • Meldungen und Stellungnahmen im Kontext dieses Urteils: vgl. hier.
  • Meldungen zum Thema „Kinderbetreuung“ allgemein: vgl. hier.

Der BayVGH hatte in seinem Urt. v. 22.07.2016 (12 BV 15.719) folgende Leitsätze formuliert:

  1. Der Träger der öffentlichen Jugendhilfe (Landkreis oder kreisfreie Stadt) hat dem nach § 24 Abs. 2 SGB VIII allein anspruchsberechtigten Kind entsprechend seiner Gewährleistungsverantwortung aus § 79 Abs. 2 SGB VIII i.V.m. § 27 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 SGB I entweder einen Platz in einer eigenen Kindertageseinrichtung zuzuweisen (zu verschaffen) oder in einer Einrichtung eines anderen (freien) Trägers bzw. einer kreisangehörigen Gemeinde oder in Kindertagespflege bei einem Tagesvater oder einer Tagesmutter nachzuweisen (bereitzustellen), der/die bereit ist, das Kind aufzunehmen, sofern ein entsprechender Bedarf gemäß § 24 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII i.V.m. Art. 45a AGSG rechtzeitig geltend gemacht wird.
  2. Den Träger der öffentlichen Jugendhilfe trifft insoweit eine unbedingte Garantie- und Gewährleistungshaftung, die unabhängig von der jeweiligen finanziellen Situation der Kommunen zur Bereitstellung eines bedarfsgerechten Angebots und damit – sofern entsprechende Betreuungsplätze fehlen – zu einer Kapazitätserweiterung zwingt; dem Rechtsanspruch aus § 24 Abs. 2 SGB VIII kann der Einwand der Kapazitätserschöpfung nicht entgegen gehalten werden.
  3. Der Anspruch aus § 24 Abs. 2 SGB VIII kann nach Art. 45a AGSG bei allen Einrichtungen der Gemeinde bzw. des örtlichen Trägers der öffentlichen Jugendhilfe, namentlich in den kommunalen Kinderkrippen selbst, geltend gemacht werden. Voraussetzung ist lediglich, dass der Wille des Anspruchstellers bzw. seiner Eltern, nicht nur den einrichtungsbezogenen Anspruch aus Art. 21 Abs. 1 BayGO, sondern den Rechtsanspruch aus § 24 Abs. 2 SGB VIII geltend zu machen, hinreichend deutlich hervortritt.
  4. Der Rechtsanspruch erschöpft sich nicht in einem „Versorgtsein mit einem Betreuungsplatz“; er erfordert auf der Grundlage der aus § 79 Abs. 2 SGB VIII folgenden Gewährleistungsverantwortung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe die Verschaffung bzw. Bereitstellung eines entsprechenden Platzes durch aktives Handeln (Vermitteln) des örtlich zuständigen Trägers. Dementsprechend stellt sich die Selbstbeschaffung eines Betreuungsplatzes im Vergleich zur Erlangung eines solchen im Wege des § 24 Abs. 2 SGB VIII als Aliud dar. Allein der Umstand, dass der Rechtsanspruch auch durch den Nachweis eines Platzes bei einem freien oder privaten Träger erfüllt werden kann, bewirkt keine wie auch immer geartete öffentlich-rechtliche Überformung dieses Betreuungsangebots. Demzufolge kann die (Selbst-) Beschaffung eines Betreuungsplatzes durch die Eltern eines anspruchsberechtigten Kindes auch keine Erfüllung des Verschaffungsanspruchs aus § 24 Abs. 2 SGB VIII bewirken.
  5. § 24 Abs. 2 SGB VIII begründet einen echten Alternativanspruch („Tageseinrichtung oder Kindertagespflege“), der von keinen weiteren Voraussetzungen als dem Erreichen des in der Vorschrift genannten Alters abhängt. Letzteres bedeutet, dass die Eltern als Vertreter des allein anspruchsberechtigten Kindes vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe nicht auf die Inanspruchnahme einer Tagesmutter oder eines Tagesvaters verwiesen werden können, wenn Plätze in einer Tageseinrichtung nicht oder nicht rechtzeitig zur Verfügung stehen und umgekehrt.
  6. Nach § 24 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 24 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII richtet sich der Umfang der täglichen Förderung nach dem konkret-individuellen Bedarf des anspruchsberechtigten Kindes und seiner personensorgeberechtigten Eltern. Die Erziehungsberechtigten können, da der Anspruch aus § 24 Abs. 2 SGB VIII – anders als der aus Absatz 1 – nicht von der Erfüllung von Bedarfskriterien abhängig ist, auch dann eine Halb- oder Ganztagsbetreuung für ihr Kind in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege in Anspruch nehmen, wenn sie überhaupt nicht oder nur zum Teil erwerbstätig sind, im Rahmen der Ausübung des Wunsch- und Wahlrechts des Kindes (§ 5 SGB VIII) aber gleichwohl professioneller Betreuung den Vorzug geben wollen. Maßgeblich ist infolgedessen der durch die Erziehungsberechtigten definierte individuelle Bedarf, begrenzt allein durch das Wohl des zu betreuenden Kindes.
  7. Angemessen Rechnung getragen wird dem Anspruch auf Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege regelmäßig nur dann, wenn diese entsprechend dem das Jugendhilferecht beherrschenden Prinzip der Wohnortnähe vom Wohnsitz des Kindes aus in vertretbarer Zeit erreicht werden können. Welche Entfernung zwischen Wohnort und Tagesstätte noch zumutbar ist, lässt sich nicht abstrakt-generell festlegen. Vielmehr sind einerseits die Zumutbarkeit für das Kind selbst und andererseits auch der Zeitaufwand für den begleitenden Elternteil zu berücksichtigen. Einzubeziehen ist dabei auch die Entfernung zur Arbeitsstätte und der damit verbundene gesamte zeitliche Aufwand für die Eltern.
  8. Ist der Träger der öffentlichen Jugendhilfe nicht imstande, entsprechend dem jeweiligen Elternwillen einen Betreuungsplatz in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege zur Verfügung zu stellen, so hat er Aufwendungsersatz analog § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII zu leisten. Zu erstatten sind in der Regel diejenigen Aufwendungen, die der Selbstbeschaffer unter Berücksichtigung der Verpflichtung zu wirtschaftlichem Handeln nach Lage der Dinge für erforderlich halten durfte. Abzusetzen sind im Wege des Vorteilsausgleichs etwaige Kostenbeiträge nach § 90 Abs. 1 SGB VIII.
  9. Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe sind verpflichtet, alle ihre Bürger gleich zu behandeln (Art. 15 Abs. 1 Satz 2 AGSG i.V.m. Art. 11 Abs. 1 Satz 2 BayLKrO, Art. 15 Abs. 1 Satz 2 BayGO). Verboten ist daher ein gleichheitswidriger Begünstigungsausschluss, bei dem einem Personenkreis eine Begünstigung gewährt wird, einem anderen jedoch vorenthalten bleibt. Dies gilt auch dann, wenn kein Rechtsanspruch auf kostenfreie Leistung besteht.
  10. Der Jugendhilfeträger kann deshalb, insbesondere dann, wenn er – als kreisfreie Stadt – Gemeinde und Jugendhilfeträger zugleich ist, mit anderen Worten eine Doppelrolle wahrnimmt, ohne Vorschaltung eines alle Interessenten gleichermaßen einbeziehenden Auswahlverfahrens und ohne Festlegung sach- und interessengerechter Vergabekriterien, ein im Wesentlichen vergleichbares Angebot unterstellt, nicht einerseits einem Teil des anspruchsberechtigten Personenkreises einen „günstigen“ Platz in einer eigenen oder kommunalen Einrichtung verschaffen, einen anderen, in gleicher Weise anspruchsberechtigten Personenkreis jedoch auf „weniger günstige“ Einrichtungen eines freigemeinnützigen Trägers oder gar „erheblich teurere“ Einrichtungen eines privaten Trägers verweisen.
  11. Kann ein Kind ohne Vorliegen sachlich rechtfertigender Gründe nur auf einen Platz mit einem höheren Elternbeitrag verwiesen werden, so ist der damit verbundene gleichheitswidrige Begünstigungsausschluss durch Zahlung eines Ausgleichsbetrags (§ 90 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII) zu kompensieren.
  12. Der Sekundäranspruch auf Aufwendungsersatz erlischt, wenn der Jugendhilfe-träger nachträglich einen geeigneten Betreuungsplatz anbietet und dem anspruchsberechtigten Kind unter Berücksichtigung des Kindeswohls und der Verpflichtung zu wirtschaftlichem Handeln ein Einrichtungswechsel zumutbar ist.