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EuGH (GA): Der Beschluss der EZB über ein Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors an den Sekundärmärkten ist gültig

Das Programm verstoße nicht gegen das Verbot der monetären Finanzierung und gehe nicht über das Mandat der EZB hinaus

Mit Beschluss vom 4. März 2015[1] legte die Europäische Zentralbank (EZB) ein Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors an den Sekundärmärkten auf (Public sector asset purchase programme, im Folgenden: PSPP).

Bei dem PSPP handelt es sich um eines der vier Teilprogramme des erweiterten Programms zum Ankauf von Wertpapieren (Expanded Asset Purchase Programme, im Folgenden: APP), das im Januar 2015 von der EZB angekündigt wurde und allgemein „quantitative Lockerung“ (quantitative easing) genannt wird. Gegenüber den anderen drei Teilprogrammen des APP, die den Ankauf von Anleihen des privaten Sektors betreffen, ist das PSPP subsidiär.

Mit dem APP und somit dem PSPP soll der Deflationsgefahr in der Eurozone begegnet und dadurch die Preisstabilität gewährleistet werden. Ein umfangreicher Ankauf von Wertpapieren einschließlich Anleihen des öffentlichen Sektors soll nämlich eine Lockerung der monetären und finanziellen Bedingungen bewirken, um es Unternehmen und Privathaushalten zu ermöglichen, kostengünstigere Finanzierungen zu erhalten. Dies hat im Grundsatz zur Folge, die Investitionen und den Verbrauch anzuregen, was dazu beiträgt, die Inflationsrate wieder auf das angestrebte Niveau von unter, aber nahe 2 % zurückkehren zu lassen.

Das PSPP wurde in einem Kontext aufgelegt, in dem die Leitzinsen der EZB ihre Untergrenze erreicht und die Programme zum Ankauf von Anleihen des privaten Sektors unzureichende Wirkung zur Erreichung dieser Ziele gezeigt hatten. Die einzige Wertpapierklasse, die aufgrund ihres bereits vorhandenen Marktvolumens als geeignet angesehen wurde, das für das Schließen der Inflationslücke zusätzlich erforderliche Kaufvolumen bereitzustellen, waren Anleihen des öffentlichen Sektors.

Mehrere Gruppen von Privatpersonen erhoben beim BVerfG (Deutschland) Verfassungsbeschwerden gegen verschiedene Beschlüsse der EZB zum APP, gegen die Mitwirkung der Deutschen Bundesbank an der Umsetzung dieser Beschlüsse oder ihre behauptete Untätigkeit im Hinblick auf diese sowie die behauptete Untätigkeit der Bundesregierung und des Deutschen Bundestags im Hinblick auf diese Mitwirkung und auf diese Beschlüsse.

Sie führen an, das PSPP verstoße gegen das Verbot der monetären Finanzierung der Mitgliedstaaten[2] und den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung[3]. Außerdem verletzten die Beschlüsse zum PSPP das im Grundgesetz niedergelegte Demokratieprinzip und beeinträchtigten dadurch die deutsche Verfassungsidentität.

Das BVerfG führt aus, falls der Beschluss der EZB zum PSPP gegen das Verbot der monetären Finanzierung verstoße oder über das Mandat der EZB hinausgehe, müsse es eine offensichtliche und strukturell bedeutsame Überschreitung der Kompetenzen der EZB feststellen und folglich den Anträgen des Ausgangsverfahrens stattgeben. Dies gelte auch, falls die sich aus diesem Beschluss ergebende Verlustverteilung das Budgetrecht des Deutschen Bundestages beeinträchtige. Unter diesen Umständen hat das BVerfG beschlossen, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen.

In seinen heutigen Schlussanträgen schlägt Generalanwalt Melchior Wathelet dem Gerichtshof vor, dem BVerfG zu antworten, dass die Prüfung des Beschlusses der EZB zum PSPP[4] (im Folgenden: PSPP-Beschluss) nichts ergeben hat, was seine Gültigkeit beeinträchtigen könnte.

Erstens ist der Generalanwalt der Ansicht, dass der PSPP-Beschluss nicht im Widerspruch zum Verbot der monetären Finanzierung steht.

Zum einen nämlich verleihe das PSPP dem Tätigwerden des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) nicht die gleiche Wirkung wie ein unmittelbarer Erwerb von Staatsanleihen von den öffentlich-rechtlichen Körperschaften und Einrichtungen der Mitgliedstaaten; zum anderen sei es nicht geeignet, den Mitgliedstaaten den Anreiz zur Verfolgung einer gesunden Haushaltspolitik zu nehmen.

Unter Verweis auf das Urteil Gauweiler u. a. zum von der EZB im September 2012 angekündigten OMT-Programm[5] führt der Generalanwalt aus, die grundsätzliche Rechtmäßigkeit eines Ankaufs von Staatsanleihen an den Sekundärmärkten durch das ESZB lasse sich nicht bestreiten. Die Gültigkeit eines Programms wie des PSPP hänge von den Garantien ab, mit denen es versehen sei.

Zur angeblich gleichen Wirkung des PSPP wie ein unmittelbarer Erwerb von Staatsanleihen von den öffentlich-rechtlichen Körperschaften und Einrichtungen der Mitgliedstaaten stellt der Generalanwalt fest, das PSPP biete hinreichende Garantien, um zu verhindern, dass die Emissionsbedingungen für Staatsanleihen durch die Gewissheit verfälscht würden, dass diese Anleihen nach ihrer Ausgabe durch das ESZB erworben würden, und somit zu verhindern, dass die auf den Märkten für Staatsanleihen tätigen Wirtschaftsteilnehmer faktisch als Mittelpersonen des ESZB für den unmittelbaren Erwerb der Anleihen agierten.

Hierzu weist der Generalanwalt darauf hin, dass i) der EZB-Rat dafür zuständig sei, über den Umfang, den Beginn, die Fortsetzung und die Aussetzung der vom PSPP vorgesehenen Interventionen an den Sekundärmärkten zu entscheiden; ii) das PSPP gegenüber den drei anderen Programmen des APP, die den Ankauf von Anleihen des privaten Sektors beträfen, subsidiär sei; iii) das PSPP im Gegensatz zum OMT-Programm keinen selektiven, sondern einen für alle Mitgliedstaaten der Eurozone repräsentativen Ankauf von Anleihen vorsehe; iv) das Halten von Wertpapieren grundsätzlich nur bis zu 33 % einer einzelnen Emission gestattet sei, wobei das ESZB während der gesamten Dauer des PSPP nicht mehr als 33 % der ausstehenden Wertpapiere ein- und desselben Emittenten halten dürfe; v) eine Mindestfrist bestehe zwischen der Ausgabe eines Schuldtitels auf dem Primärmarkt und seinem Ankauf an den Sekundärmärkten und vi) die von der EZB mitgeteilten Modalitäten des PSPP allgemein gehalten blieben.

Zu den behaupteten negativen Auswirkungen eines Programms wie des PSPP auf den Anreiz, eine gesunde Haushaltspolitik zu verfolgen, führt der Generalanwalt an, diese würden bereits durch die für das ESZB bestehende Möglichkeit beschränkt, die erworbenen Anleihen jederzeit wieder zu verkaufen. Verfolge ein Emittent von Staatsanleihen zudem keine gesunde Haushaltspolitik mehr, liefen die begebenen Anleihen Gefahr, das vom PSPP verlangte Kreditqualitätsrating zu verlieren. Außerdem richte sich die Verteilung der Ankäufe auf die öffentlichen Emittenten aller Mitgliedstaaten der Eurozone nach einem objektiven und von der Wirtschaftslage oder ihrer Haushaltspolitik unabhängigen Kriterium, nämlich nach dem Schlüssel für die Kapitalzeichnung der EZB. Folglich könne das PSPP nicht als ein Mechanismus zur Unterstützung von Staaten aufgefasst werden, die sich in Finanzierungsschwierigkeiten befänden. Da die Risikoteilung im Rahmen des PSPP beschränkt sei, seien es schließlich für 80 % der PSPP-Ankäufe die örtlichen Steuerzahler oder die anderen Gläubiger der öffentlichen Anleihen, die mögliche Verluste zu tragen und für die Rekapitalisierung der betroffenen Zentralbank aufzukommen hätten.

In diesem Kontext stellt der Generalanwalt fest, dass es nur noch einen einzigen Mitgliedstaat (Spanien) gebe, gegen den ein Verfahren wegen übermäßigen Defizits anhängig sei, während es im Jahr 2011 noch 24 gewesen seien. Diese objektive Lage deute darauf hin, dass die Mitgliedstaaten der Eurozone eine gesunde Haushaltspolitik verfolgten.

Was zweitens die Frage betreffe, ob das PSPP im Hinblick auf seinen Umfang, die Dauer seines Vollzugs und die sich daraus ergebenden Folgen über das Mandat der EZB hinausgehe, so verfolge das PSPP ein währungspolitisches Ziel durch den Einsatz von Instrumenten, die zu dieser Politik gehörten. Die EZB habe weder bei der Festlegung der Ziele des Programms noch bei der Wahl der einzusetzenden Instrumente einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen. Auch habe sie weder ihre Befugnisse missbraucht noch offensichtlich die Grenzen ihres Ermessens überschritten.

Mögliche mittelbare Auswirkungen könnten nicht bedeuten, dass ein Programm der EZB notwendigerweise als eine wirtschaftspolitische Maßnahme einzustufen sei, da sich aus dem Vertrag selbst ergebe, dass das ESZB ohne Beeinträchtigung des Ziels der Preisstabilität die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union unterstütze. Außerdem beinhalte die Geldpolitik fortlaufend, auf die Zinssätze und die Refinanzierungsbedingungen der Banken einzuwirken, was zwangsläufig Konsequenzen für die Finanzierungsbedingungen des Haushaltsdefizits der Mitgliedstaaten habe.

Abgesehen von den Anforderungen an die Kreditqualität des Emittenten oder Garanten, denen der Ankauf von Staatsanleihen unterliege, spielten drei Merkmale des PSPP eine wesentliche Rolle, um zu gewährleisten, dass mit diesem Programm nicht vorrangig wirtschaftspolitische Ziele verfolgt würden. Erstens seien die Ankäufe von Staatsanleihen im Rahmen des PSPP subsidiär gegenüber den im Rahmen der drei anderen Programme des APP erlaubten Maßnahmen, die alle den Ankauf von Anleihen des privaten Sektors beträfen. Zweitens würden die vom PSPP erlaubten Ankäufe nach einem festen, objektiven und von ihrer individuellen wirtschaftlichen Situation unabhängigen Schlüssel auf alle Mitgliedstaaten der Eurozone aufgeteilt. Drittens sei die Verteilung der Risiken auf 20 % der im Rahmen des PSPP getätigten Ankäufe beschränkt.

Eine Erreichung des Ziels, mittelfristig Inflationsraten von unter, aber nahe 2 % zu erreichen, zeichne sich ab. Daher habe die EZB auf der Sitzung des EZB-Rats vom 14. Juni 2018 vorgesehen, den monatlichen Nettoerwerb von Vermögenswerten im Rahmen des APP von Oktober 2018 bis Ende Dezember 2018 – dem Zeitpunkt, an dem der Nettoerwerb enden werde – grundsätzlich auf 15 Milliarden Euro zu reduzieren.

Drittens führt der Generalanwalt zur Verhältnismäßigkeit des PSPP aus, das PSPP sei zur Erreichung seines Ziels ebenso geeignet wie erforderlich (andere, ebenso wirksame währungspolitische Maßnahmen habe die EZB nämlich bereits ausgeschöpft) und gehe nicht offensichtlich über das für die Erreichung des Ziels Erforderliche hinaus. Das ESZB habe die verschiedenen bestehenden Interessen in einer Weise gegeneinander abgewogen, die verhindere, dass sich bei der Durchführung des PSPP Nachteile ergäben, die offensichtlich außer Verhältnis zu dessen Zielen stünden.

Pressemitteilung des EuGH Nr. 145 v. 04.10.2018 zu den Schlussanträge des Generalanwalts in der Rs. C-493/17 (W. u. a.)


[1] Beschluss (EU) 2015/774 der Europäischen Zentralbank vom 4. März 2015 über ein Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors an den Sekundärmärkten (ABl. 2015, L 121, S. 20). Dieser Beschluss wurde geändert durch den Beschluss (EU) 2015/2101 der Europäischen Zentralbank vom 5. November 2015 (ABl. 2015, L 303, S. 106), durch den Beschluss (EU) 2015/2464 der Europäischen Zentralbank vom 16. Dezember 2015 (ABl. 2015, L 344, S. 1), durch den Beschluss (EU) 2016/702 der Europäischen Zentralbank vom 18. April 2016 (ABl. 2016, L 121, S. 24) sowie durch den Beschluss (EU) 2017/100 der Europäischen Zentralbank vom 11. Januar 2017 (ABl. 2017, L 16, p. 51).

[2] Art. 123 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV).

[3] Art. 5 Abs. 1 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) in Verbindung mit den Art. 119 und 127 AEUV.

[4] In seiner durch die in Fn. 1 genannten Beschlüsse geänderten Fassung.

[5] Urteil vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a. (C-62/14, vgl. auch Pressemitteilung Nr. 70/15).