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BayVGH zu den Anforderungen an die Gefahrenprognose im Rahmen versammlungsrechtlicher Beschränkungen (Verbot von Parolen)

Bemerkung der Landesanwaltschaft Bayern zu BayVGH, Urt. v. 10.07.2018 – 10 B 17.1996 / Schlagworte: Fortsetzungsfeststellungsklage; maßgeblicher Zeitpunkt; unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung; Anforderungen an die Gefahrenprognose; Nachschieben von Gründen im Verwaltungsprozess; pflichtgemäße Ermessensausübung; Ermessensfehlgebrauch der Versammlungsbehörde; Ergänzung der Ermessenserwägungen im Verwaltungsprozess / Landesrechtliche Normen: BayVersG

mitgeteilt von Oberlandesanwalt Dr. Magnus Riedl, Landesanwaltschaft Bayern

Leitsätze:

  1. Maßgeblich für die gerichtliche Prüfung der Rechtswidrigkeit eines erledigten versammlungsrechtlichen Verwaltungsakts (hier: Beschränkung) ist die zum Zeitpunkt der Erledigung des Verwaltungsakts bestehende Sach- und Rechtslage.
  2. Die Frage, ob bei der (allgemein) im Gefahrenabwehrrecht gebotenen ex-ante-Betrachtung im Zeitpunkt der Maßnahme konkrete Tatsachen vorlagen, die die Annahme einer unmittelbaren Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung begründeten, unterliegt voller gerichtlicher Nachprüfung.
  3. Ein Nachschieben von Gründen im Verwaltungsprozess im Sinne einer Nachholung oder Ergänzung der materiell-rechtlich relevanten Begründung – hier der Gefahrenprognose gem. Art. 15 Abs. 1 Satz 1 BayVersG – ist bei einer Fortsetzungsfeststellungsklage (§ 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO analog) aus prozessualen Gründen und vor allem Gründen des materiellen Rechts nicht möglich.
  4. Zur Möglichkeit einer nachträglichen Ergänzung der Ermessenserwägungen mit heilender Rückwirkung (hier: verneint).

Bemerkung der Landesanwaltschaft Bayern

Der 10. Senat des BayVGH befasst sich in der Entscheidung mit den Anforderungen an die Gefahrenprognose sowie mit der Zulässigkeit des Nachschiebens von Gründen und der Ergänzung von Ermessenserwägungen im Rahmen versammlungsrechtlicher Beschränkungen nach Art. 15 BayVersG.

Der Senat nimmt zunächst Bezug auf die ständige Rechtsprechung des BVerfG, nach der als Grundlage für eine Gefahrenprognose im Rahmen von Art. 15 Abs. 1 BayVersG konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte für eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erforderlich sind und die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen von Gründen für ein Verbot oder eine Auflage grundsätzlich bei der Behörde liegt (Rn. 26). Dabei ist es nach Auffassung des Senats erforderlich, nicht nur allgemein auf polizeiliche Erkenntnisse sowie ggf. auf Erkenntnisse der Verfassungsschutzbehörden zu bestimmten Gruppierungen zu verweisen, sondern auf die konkrete Versammlung bezogene Anhaltspunkte für eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu benennen, nämlich etwa dafür, dass eine bestimmte Art und Weise der Meinungsäußerung bei der konkret anstehenden Versammlung auch tatsächlich beabsichtigt ist (Rn. 29 ff., 32).

Die bisherige Rechtsprechung ergänzend führt der Senat aus, dass im Rahmen der Gefahrenprognose gem. Art. 15 Abs. 1 BayVersG eine Nachholung oder Ergänzung der materiell-rechtlichen Begründung im Verwaltungsprozess im Fall einer Fortsetzungsfeststellungsklage aus prozessualen und materiell-rechtlichen Gründen nicht möglich sei (Rn. 33 ff.). Denn Gegenstand der gerichtlichen Prüfung sei bei einer Fortsetzungsfeststellungsklage allein die Rechtswidrigkeit der durch Zeitablauf erledigten, d.h. unwirksam gewordenen, Beschränkung; der Streitgegenstand könne nach dem Ende der äußeren und inneren Wirksamkeit des Verwaltungsaktes nicht mehr einseitig durch die Behörde beeinflusst werden (Rn. 34). Zudem könnten nach dem materiellen Recht Grundlage der Gefahrenprognose nur zum Zeitpunkt der behördlichen Verfügung erkennbare tatsächliche Anhaltspunkte sein. Daraus folgend sei es nicht zulässig, wenn die Behörde die von ihr zu fordernden Bemühungen um Sachaufklärung nicht zum Zeitpunkt ihrer Verfügung, sondern erst nachträglich im Verwaltungsstreitverfahren unternehme. Dies werde der Bedeutung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit nicht gerecht (Rn. 35). Deshalb könne ein Bescheid auch nicht nachträglich auf eine andere Rechtsgrundlage als die ursprünglich genannte gestützt werden (Rn. 37).

Auch die Ergänzung von Ermessenserwägungen sei in der vorliegenden Konstellation nicht zulässig. Der Senat lässt hierbei offen, ob dies generell in der prozessualen Situation einer Fortsetzungsfeststellungsklage ausscheidet (Rn. 46). Jedenfalls aber sei dies aus den bereits genannten materiell-rechtlichen Gründen mit Blick auf Bescheide nach Art. 15 Abs. 1 BayVersG ausgeschlossen (Rn. 47).

Abschließender Praxistipp

Vor Erlass von versammlungsbeschränkenden Auflagen nach Art. 15 BayVersG muss von der Versammlungsbehörde eine konkret auf den Einzelfall bezogene, auf hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte gestützte Gefahrenprognose angestellt werden, die in der Begründung des Bescheids auch entsprechend schriftlich wiederzugeben ist. Lediglich allgemeine Erkenntnisse zu bestimmten Gruppierungen sowie Textbausteine genügen hier ebenso wenig wie im Rahmen der Begründung der Ermessensentscheidung. Eventuelle Defizite und Fehler können nachträglich nicht mehr behoben werden.

Net-Dokument: BayRVR2018101501 (über die ohne Leerzeichen einzugebende Net-Dokumenten-Nummer ist der Beitrag über die BayRVR-interne Suche und i.d.R. auch über Google jederzeit eindeutig identifizierbar und direkt aufrufbar)

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Anmerkung der Redaktion

Oberlandesanwalt Dr. Magnus Riedl ist bei der Landesanwaltschaft Bayern Ständiger Vertreter des Generallandesanwalts.

Die auf bestimmte Rechtsgebiete spezialisierten Juristinnen und Juristen der Landesanwaltschaft Bayern stellen zum 15. eines jeden Monats (ggfls. am darauf folgenden Werktag) eine aktuelle, für die Behörden im Freistaat besonders bedeutsame Entscheidung vor: Beiträge der LAB.