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EuGH: Der Schengener Grenzkodex hindert Deutschland daran, Beförderungsunternehmer im grenzüberschreitenden Linienbusverkehr zu verpflichten, vor der Einreise in das deutsche Hoheitsgebiet die Pässe und Aufenthaltstitel der Passagiere zu kontrollieren

Solche Kontrollen haben die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen und sind daher verboten

Nach deutschem Recht[1] muss jeder Beförderungsunternehmer, der im Schengen-Raum einen grenzüberschreitenden Linienbusverkehr mit Zielort in Deutschland betreibt, vor dem Überschreiten der deutschen Grenze die Pässe und Aufenthaltstitel der Passagiere kontrollieren. Damit soll verhindert werden, dass Drittstaatsangehörige, die nicht im Besitz dieser Reisedokumente sind, in das deutsche Hoheitsgebiet befördert werden. Die Polizeibehörden können zur Durchsetzung der Kontrollpflicht zwangsgeldbewehrte Verfügungen, mit denen solche Beförderungen untersagt werden, an Beförderungsunternehmer richten, die nach ihren Feststellungen Drittstaatsangehörige, die nicht im Besitz der genannten Reisedokumente waren, in das deutsche Hoheitsgebiet befördert haben.

Die Touring Tours und Travel GmbH mit Sitz in Deutschland und die Sociedad de Transportes SA mit Sitz in Spanien sind Busreiseunternehmen, die Linienverkehre nach Deutschland über die deutsch-niederländische und die deutsch-belgische Grenze betreiben. Da das Bundespolizeipräsidium (Deutschland) der Auffassung war, dass diese Unternehmen eine erhebliche Zahl von Drittstaatsangehörigen ohne die erforderlichen Reisedokumente nach Deutschland befördert hätten, erließ es 2014 im Anschluss an eine Abmahnung Verfügungen, mit denen ihnen unter Androhung eines Zwangsgelds untersagt wurde, Drittstaatsangehörige, die nicht im Besitz des erforderlichen Passes und Aufenthaltstitels sind, in das deutsche Hoheitsgebiet zu befördern.

Die beiden im Linienbusverkehr tätigen Beförderungsunternehmen erhoben dagegen Klagen vor den deutschen Gerichten. Da das Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) Zweifel hat, ob die streitige Kontrollpflicht mit der Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen des Schengen-Raums vereinbar ist, hat es den Gerichtshof hierzu befragt.

In seinem heutigen Urteil stellt der Gerichtshof fest, dass der Schengener Grenzkodex[2] (in seiner 2014 geltenden Fassung[3]) es verbietet, einem Beförderungsunternehmer, der einen Linienbusverkehr mit Zielort in Deutschland betreibt, die streitige Kontrollpflicht aufzuerlegen, und dass er dem Erlass zwangsgeldbewehrter Verfügungen entgegensteht[4], mit denen Unternehmern, die gegen diese Verpflichtung verstoßen haben, jede weitere Beförderung von Passagieren ohne die erforderlichen Reisedokumente untersagt wird.

Da die in Rede stehenden Kontrollen durchgeführt werden, wenn die Reisenden zu Beginn der grenzüberschreitenden Reise in den Bus einsteigen, handelt es sich um Kontrollen innerhalb des Hoheitsgebiets eines Mitgliedstaats, die verboten sind, wenn sie die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben.

Nach Ansicht des Gerichtshofs haben die in Rede stehenden Kontrollen eine solche Wirkung und sind daher verboten.

Die Kontrollen sollen nämlich nur sicherstellen, dass den Personen, die sich im Bus befinden und die Absicht haben, die deutsche Grenze zu überschreiten, tatsächlich gestattet werden kann, in das deutsche Hoheitsgebiet einzureisen. Sie sollen somit – ebenso wie die Kontrollen durch die Grenzschutzbehörden beim Überschreiten der Außengrenzen – die Passagiere daran hindern, in das deutsche Hoheitsgebiet zu gelangen, wenn sie nicht über die erforderlichen Reisedokumente verfügen. Sie werden mithin gerade durch die Überschreitung einer Binnengrenze ausgelöst.

Außerdem hat die streitige Kontrollpflicht allgemeinen Charakter und gilt für alle grenzüberschreitenden Buslinien, unabhängig vom Verhalten der betreffenden Personen und von Umständen, aus denen sich die Gefahr einer Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung ergibt. Des Weiteren muss die Kontrolle der Reisedokumente systematisch bei allen Reisenden auf allen grenzüberschreitenden Buslinien vorgenommen werden. Für die auf das deutsche Hoheitsgebiet beschränkten Linien gilt die streitige Kontrollpflicht hingegen nicht, obwohl sie eine ebenso große oder größere Streckenlänge haben können als die von der Kontrollpflicht erfassten grenzüberschreitenden Linien.

Da die Kontrollpflicht als solche gegen den Schengener Grenzkodex verstößt, steht dieser auch dem Erlass zwangsgeldbewehrter Untersagungsverfügungen zur Ahndung der Verletzung dieser Pflicht entgegen.

Pressemitteilung des EuGH Nr. 200 v. 13.12.2018 – verbundene Rs. C-412/17 und C-474/17 (Bundesrepublik Deutschland / Touring Tours und Travel GmbH und Sociedad de Transportes SA)


[1] § 63 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet vom 30. Juli 2004 (BGBl. 2004 I S. 1950) in der für die Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung.

[2] Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2006, L 105, S. 1) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 610/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. 2013, L 182, S. 1) geänderten Fassung.

[3] Die Verordnung Nr. 562/2006, die zu der für die Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeit anwendbar war, wurde durch die Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2016, L 77, S. 1) aufgehoben und ersetzt.

[4] Der Gerichtshof hebt hervor, dass er weder die Richtlinie 2002/90/EG des Rates vom 28. November 2002 zur Definition der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt (ABl. 2002, L 328, S. 17) noch den Rahmenbeschluss 2002/946/JI des Rates vom 28. November 2002 zur Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens für die Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt (ABl. 2002, L 328, S. 1) oder die Richtlinie 2001/51/EG des Rates vom 28. Juni 2001 zur Ergänzung der Regelungen nach Artikel 26 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 (ABl. 2001, L 187, S. 45) geprüft hat. Aus ihnen hatte die Bundesrepublik Deutschland abgeleitet, dass das Unionsrecht die Mitgliedstaaten verpflichte, den Personenbeförderungsunternehmern Kontrollpflichten wie die in Rede stehenden aufzuerlegen und angemessene Sanktionen zu verhängen. Das Bundesverwaltungsgericht hat nämlich ausdrücklich angegeben, dass die etwaigen Auswirkungen dieser Rechtsakte keiner Klärung bedürften.