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EuGH (GA): Innerstaatliche Gerichte müssen auf Antrag Betroffener prüfen, ob die Standortwahl für Luftmessstationen den unionsrechtlichen Vorgaben entspricht

Eine Überschreitung der Grenzwerte für Stickstoffdioxid, Schwefeldioxid, PM10, Blei, Benzol und Kohlenmonoxid liege zudem schon dann vor, wenn das an einer Messstation der Fall sei

Mehrere Einwohner der belgischen Region Brüssel-Hauptstadt sowie die Umweltorganisation ClientEarth streiten vor dem niederländischsprachigen Gericht erster Instanz Brüssel mit der Region Brüssel-Hauptstadt und dem Brüsseler Institut für Umweltmanagement darüber, ob für das Gebiet von Brüssel ein ausreichender Luftqualitätsplan erstellt wurde.

Das Brüsseler Gericht ersucht den Gerichtshof in diesem Zusammenhang um Auslegung des einschlägigen Unionsrechts, insbesondere der Richtlinie über Luftqualität und saubere Luft für Europa[1]. Es möchte erstens wissen, inwieweit die innerstaatlichen Gerichte die Standortwahl für Messstationen kontrollieren können, und zweitens, ob aus den Ergebnissen verschiedener Messstationen ein Mittelwert gebildet werden darf, um die Einhaltung der Grenzwerte zu beurteilen.

Hinsichtlich der ersten Frage stellt Generalanwältin Juliane Kokott in ihren Schlussanträgen von heute fest, dass nach der Richtlinie ortsfeste Messstationen insbesondere in Bereichen aufzustellen seien, in denen die höchsten Konzentrationen von Schwefeldioxid, Stickstoffdioxid und Stickstoffoxiden, Partikeln (PM 10, PM 2,5), Blei, Benzol und Kohlenmonoxid aufträten, denen die Bevölkerung wahrscheinlich über einen signifikanten Zeitraum ausgesetzt sein werde. Zudem würden die Dimensionen dieser Bereiche in der Richtlinie näher festgelegt.

Zwar komme den zuständigen Stellen bei der komplexen wissenschaftlichen Beurteilung und der Abwägung, die sie bei der Standortwahl vorzunehmen hätten, ein Ermessen zu. Das Unionsrecht verlange jedoch eine richterliche Kontrolle, die dem von der Richtlinie angestrebten Schutz von Leben und Gesundheit der Anwohner gerecht werde.

Schon bei der Bestimmung der besten verfügbaren Methode für die Standortwahl müssten vernünftige wissenschaftliche Zweifel gewichtet werden. Außerdem müsse abgewogen werden, welcher Aufwand gerechtfertigt sei, um sie auszuräumen. Bei beiden Aspekten dürften sich die innerstaatlichen Gerichte aufgrund der Bedeutung der Luftqualitätsregeln für das Leben und die Gesundheit von Menschen nicht darauf beschränken, offensichtliche Fehler zu identifizieren.

Vielmehr obliege es den zuständigen Stellen, die Gerichte insbesondere mit begründeten Argumenten zu überzeugen. Diese müssten im Wesentlichen wissenschaftlicher Natur sein, könnten sich aber im Rahmen der Abwägung auch auf wirtschaftliche Aspekte erstrecken. Der Gegenseite stehe es frei, solchem Vorbringen eigene wissenschaftlich begründete Argumente entgegenzuhalten. Denkbar sei es natürlich auch, dass das Gericht unabhängige Gutachter heranziehe, um bei der Beurteilung eines solchen wissenschaftlichen Streits Unterstützung zu finden. Wenn es den Behörden nicht gelinge, die Zweifel zu entkräften, müssten sie zusätzliche Untersuchungen vornehmen, etwa weitere Messungen durchführen oder weitere Modelle über die Entwicklung der Luftqualität anwenden.

Soweit die innerstaatlichen Gerichte über Anordnungsbefugnisse verfügten, könnten sie solche weiteren Untersuchungen anordnen. Wenn die Gerichte aber lediglich Verwaltungsentscheidungen aufheben dürften, so müsse doch eine Verpflichtung der Behörden bestehen, aus dieser Aufhebung und den Gründen der Entscheidung die gebotenen Konsequenzen zu ziehen.

Generalanwältin Kokott schlägt dem Gerichtshof daher vor, auf die erste Frage zu antworten, dass die innerstaatlichen Gerichte auf Antrag Betroffener prüfen müssten, ob ortsfeste Messstationen im Einklang mit den Kriterien der Richtlinie[2] eingerichtet worden seien, und, wenn dies nicht der Fall sei, im Rahmen ihrer gerichtlichen Befugnisse gegenüber der nationalen Behörde alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen müssten, damit sie im Einklang mit diesen Kriterien eingerichtet würden.

Aus einer solchen gerichtlichen Entscheidung könne sich die Verpflichtung ergeben, an bestimmten Standorten Messstationen einzurichten, wenn aufgrund der vorliegenden Informationen feststehe, dass dort Messstationen eingerichtet werden müssten. Andernfalls könnten die zuständigen Behörden verpflichtet sein, Untersuchungen mit dem Ziel der Identifizierung der richtigen Standorte durchzuführen.

Was die zweite Frage anbelangt, so sprechen nach Ansicht von Generalanwältin Kokott die Systematik der Richtlinie und deren Ziel, die menschliche Gesundheit zu schützen, klar dafür, die Einhaltung der Grenzwerte für Stickstoffdioxid, Schwefeldioxid, PM10, Blei, Benzol und Kohlenmonoxid anhand der Messergebnisse der ortsfesten Messstationen zu beurteilen, ohne einen Mittelwert aller Messstationen zu bilden.

Gesundheitsbeeinträchtigungen seien überall dort zu befürchten, wo die Grenzwerte überschritten würden. Dort müssten die geeigneten Maßnahmen getroffen werden, um Beeinträchtigungen zu verhindern. Ob eine Überschreitung im Durchschnitt das gesamte Gebiet oder den Ballungsraum betreffe, sei für dieses Risiko nur von begrenzter Bedeutung. Der Witz über den Statistiker, der in einem See ertrinke, obwohl dieser im Durchschnitt nur wenige Zentimeter tief sei, bringe dies treffend zum Ausdruck.

Pressemitteilung des EuGH Nr. 21 v. 28.02.2019 zu den Schlussanträgen der Generalanwältin in der Rs C-723/17 (Lies Craeynest u. a. / Brussels Hoofstedelijk Gewest u. a.)


[1] Richtlinie 2008/50/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2008 über Luftqualität und saubere Luft für Europa (ABl. 2008, L 152, S. 1), in der Fassung der Richtlinie (EU) 2015/1480 der Kommission vom 28. August 2015 (ABl. 2015 L 226, S. 4).

[2] Anhang III Abschnitt B Nr. 1 Buchst. a.