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EuGH: Die Bestimmungen der Richtlinie über Flüchtlinge in Bezug auf die Aberkennung und die Verweigerung der Zuerkennung der Rechtsstellung als Flüchtling aus Gründen, die mit dem Schutz der Sicherheit oder der Allgemeinheit des Aufnahmestaats zusammenhängen, sind gültig

Die Aberkennung und die Verweigerung der Zuerkennung der Rechtsstellung als Flüchtling haben nicht zur Folge, dass eine Person, die eine begründete Furcht vor Verfolgung in ihrem Herkunftsland hat, die Eigenschaft als Flüchtling oder die Rechte, die das Genfer Abkommen an diese Eigenschaft knüpft, verliert

In Belgien bzw. in der Tschechischen Republik wurden einem ivorischen und einem kongolesischen Staatsangehörigen sowie einer Person tschetschenischer Herkunft, die die Rechtsstellung als Flüchtling besitzen oder beantragt haben, diese Rechtsstellung aberkannt bzw. ihre Zuerkennung verweigert, und zwar auf der Grundlage von Bestimmungen[1] der Richtlinie über Flüchtlinge[2], nach denen solche Maßnahmen gegenüber Personen erlassen werden können, die eine Gefahr für die Sicherheit oder, wenn sie wegen eines besonders schweren Verbrechens verurteilt worden sind, für die Allgemeinheit des Aufnahmestaats darstellen. Die Betroffenen fechten die Aberkennung bzw. die Verweigerung der Zuerkennung der Rechtsstellung als Flüchtling vor dem Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen, Belgien) bzw. dem Nejvyšší správní soud (Oberstes Verwaltungsgericht, Tschechische Republik) an, die Zweifel an der Vereinbarkeit der in Rede stehenden Richtlinienbestimmungen mit dem Genfer Abkommen[3] hegen.

Diese Gerichte weisen darauf hin, dass nach dem Genfer Abkommen ein Ausländer oder ein Staatenloser aus den genannten Gründen zwar ausgewiesen oder zurückgewiesen werden könne, jedoch ein Verlust der Flüchtlingseigenschaft nicht vorgesehen sei. Vor diesem Hintergrund sei fraglich, ob die Bestimmungen der Richtlinie, nach denen die Mitgliedstaaten die Rechtsstellung als Flüchtling aus den in Rede stehenden Gründen aberkennen und ihre Zuerkennung verweigern dürften, nicht einen Erlöschens- oder Ausschlussgrund enthielten, der im Genfer Abkommen nicht vorgesehen sei. Die Gerichte möchten daher vom Gerichtshof wissen, ob die fraglichen Bestimmungen der Richtlinie im Licht der Regeln der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und des AEUV, nach denen die Asylpolitik der EU das Genfer Abkommen zu achten habe, gültig seien.

Mit seinem heutigen Urteil weist der Gerichtshof zunächst darauf hin, dass die Richtlinie, auch wenn sie ein unionseigenes System des Flüchtlingsschutzes schafft, sich gleichwohl auf das Genfer Abkommen stützt und dessen uneingeschränkte Wahrung sicherstellen soll.

In diesem Zusammenhang führt der Gerichtshof aus, dass ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser, der eine begründete Furcht vor Verfolgung in seinem Herkunftsland oder in seinem Wohnsitzstaat hat, als Flüchtling im Sinne der Richtlinie und des Genfer Abkommens einzustufen ist, und zwar unabhängig davon, ob ihm die Flüchtlingseigenschaft im Sinne der Richtlinie förmlich verliehen worden ist. Insoweit weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Richtlinie die Flüchtlingseigenschaft als die Anerkennung als Flüchtling definiert und dass diese Anerkennung einen rein deklaratorischen und keinen für diese Eigenschaft konstitutiven Charakter hat.

Dazu stellt der Gerichtshof fest, dass die förmliche Anerkennung der Eigenschaft als Flüchtling zur Folge hat, dass der betreffende Flüchtling über alle in der Richtlinie für diese Art internationalen Schutzes vorgesehenen Rechte und Leistungen verfügt, und zwar sowohl Rechte, die den im Genfer Abkommen enthaltenen entsprechen, als auch in höherem Maße schützende Rechte, die sich unmittelbar aus der Richtlinie ergeben und in dem Abkommen keine Entsprechung haben.

Sodann weist der Gerichtshof darauf hin, dass die in der Richtlinie vorgesehenen Gründe für die Aberkennung und für die Verweigerung den Gründen entsprechen, die das Genfer Abkommen für die Zurückweisung eines Flüchtlings anerkennt. Während der Flüchtling in dem Fall, dass die Voraussetzungen für eine Berufung auf die genannten Gründe erfüllt sind, den Schutz des Grundsatzes der Nichtzurückweisung in ein Land, in dem sein Leben oder seine Freiheit bedroht sind, nach dem Genfer Abkommen nicht mehr in Anspruch nehmen kann, ist die Richtlinie unter Achtung der in der Charta verankerten Rechte auszulegen und anzuwenden, die eine Zurückweisung in ein solches Land ausschließen. Nach der Charta sind nämlich Folter sowie unmenschliche oder erniedrigende Strafen und Behandlungen unabhängig vom Verhalten der betreffenden Person und die Ausweisung in einen Staat, in dem einer Person das ernsthafte Risiko einer solchen Behandlung droht, uneingeschränkt verboten.

Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass, soweit die Richtlinie zur Sicherstellung des Schutzes der Sicherheit und der Allgemeinheit des Aufnahmemitgliedstaats vorsieht, dass dieser Staat die Rechtsstellung als Flüchtling aberkennen oder die Zuerkennung dieser Rechtsstellung verweigern kann, während das Genfer Abkommen aus denselben Gründen die Zurückweisung eines Flüchtlings in einen Staat, in dem sein Leben oder seine Freiheit bedroht sind, zulässt, das Unionsrecht den betreffenden Flüchtlingen einen weiteren internationalen Schutz gewährt als denjenigen, der durch dieses Abkommen gewährleistet wird.

Der Gerichtshof ist auch der Ansicht, dass die Aberkennung der Rechtsstellung als Flüchtling oder die Verweigerung der Zuerkennung dieser Rechtsstellung nicht dazu führen, dass eine Person, die eine begründete Furcht vor Verfolgung in ihrem Herkunftsland hat, die Eigenschaft als Flüchtling verliert. Obwohl eine solche Person nicht oder nicht mehr über alle in der Richtlinie den Inhabern der Rechtsstellung als Flüchtling vorbehaltenen Rechte und Leistungen verfügt, kann sie daher bestimmte im Genfer Abkommen vorgesehene Rechte geltend machen oder weiterhin geltend machen. Hierzu führt der Gerichtshof aus, dass eine Person, die die Eigenschaft als Flüchtling besitzt, uneingeschränkt über die im Genfer Abkommen verankerten Rechte, auf die die Richtlinie im Zusammenhang mit der Aberkennung und der Verweigerung der Zuerkennung der Rechtsstellung als Flüchtling aus den genannten Gründen ausdrücklich verweist[4], sowie über die in diesem Abkommen vorgesehenen Rechte, deren Ausübung keinen rechtmäßigen Aufenthalt voraussetzt, sondern eine bloße physische Anwesenheit des Flüchtlings im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats, verfügen muss.

Unter diesen Umständen gelangt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass die in Rede stehenden Bestimmungen der Richtlinie mit dem Genfer Abkommen und den Regeln der Charta und des AEUV, nach denen dieses Abkommen zu achten ist, in Einklang stehen. Daraus folgt, dass diese Bestimmungen als gültig anzusehen sind.

Pressemitteilung des EuGH Nr. 62 v. 14.05.2019 zum Urt. in den verb. Rs. C-391/16, C-77/17 und C-78/17 (M / Ministerstvo vnitra, X und X / Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides)


[1] Art. 14 Abs. 4 und 5.

[2] Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).

[3] Am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnetes und am 22. April 1954 in Kraft getretenes Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Band 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]), ergänzt durch das am 31. Januar 1967 in New York angenommene und am 4. Oktober 1967 in Kraft getretene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge.

[4] Art. 14 Abs. 6.