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Darf der Bayerische Landtag dem „Bayerischen Bündnis für Toleranz“ angehören?

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Art. 13, 16a, 64 BV (Organstreit; statthaftes Begehren; keine Prozessstandschaft im bayerischen Verfassungsrecht; Gebot der parteipolitischen Neutralität und der unparteilichen Amtsführung)

Amtliche Leitsätze

  1. Der Organstreit dient als kontradiktorische Parteistreitigkeit maßgeblich der gegenseitigen Abgrenzung der Kompetenzen von Verfassungsorganen oder ihrer Teile in einem Verfassungsrechtsverhältnis, nicht hingegen der Kontrolle der objektiven Verfassungsmäßigkeit eines bestimmten Organhandelns; Art. 64 BV eröffnet nicht die Möglichkeit einer objektiven Beanstandungsklage.
  2. Die Antragsteller können sich für ihre Antragsbefugnis nicht auf die Verletzung von Rechten des Bayerischen Landtags berufen. Das bayerische Verfassungsrecht sieht im Organstreitverfahren die Möglichkeit einer Prozessstandschaft nicht vor.
  3. Da die Bayerische Verfassung weder wertneutral ist noch sein will und von dem Willen getragen ist, dass die freiheitliche demokratische Grundordnung des Staates – unter Einsatz der Mittel der wehrhaften Demokratie – erhalten bleiben muss, kann in einer Öffentlichkeitsarbeit des Landtags, die dieses Ziel fördern will, kein Verstoß gegen die staatliche Neutralitätspflicht liegen.
  4. Es ist nicht ersichtlich, wie durch die Unterstützung einer Vereinigung, die sich für unabänderliche Grundwerte der Bayerischen Verfassung wie das Demokratieprinzip und die Menschenwürde einsetzt, denen alle Verfassungsorgane verpflichtet und die als solche jeder parteipolitischen Disposition entzogen sind, das freie Mandat von Abgeordneten (Art. 13 Abs. 2 BV) oder Oppositionsrechte (Art. 16a Abs. 1 und 2 Satz 1 BV) verletzt werden könnten. BayVerfGH, Entscheidung vom 11.08.2021, Vf. 97-IVa-20

Zum Sachverhalt

Die Antragstellerin zu 1, die Fraktion Alternative für Deutschland im Bayerischen Landtag (AfD-Fraktion), sowie die Antragsteller zu 2 und 3, zwei dieser Fraktion angehörende Abgeordnete, wenden sich dagegen, dass die vormalige Präsidentin des Bayerischen Landtags im Jahr 2009 den Bayerischen Landtag aus ihrer Sicht unzulässig als Mitglied der Vereinigung „Bayerisches Bündnis für Toleranz“ angemeldet hat, halten diese Mitgliedschaft für nichtig und sehen es als Pflicht der (jetzigen) Präsidentin des Bayerischen Landtags (Antragsgegnerin) an, diese Mitgliedschaft für nichtig zu erklären beziehungsweise hilfsweise zu kündigen.

Das „Bayerische Bündnis für Toleranz“ wurde im Jahr 2005 von der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, der Römisch- Katholischen Kirche, Erzbistum München und Freising, dem Deutschen Gewerkschaftsbund Landesbezirk Bayern, dem Bayerischen Staatsministerium des Innern und der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern gegründet und ist mittlerweile laut Eigendarstellung der größte Zusammenschluss gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus in Bayern. Die Institution tritt demnach für Toleranz sowie den Schutz von Demokratie und Menschenwurde ein und fordert diese Werte. Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus, die den Einzelnen, die Gesellschaft und den Staat bedrohten, setze das Bayerische Bündnis für Toleranz durch diese Werte etwas Positives entgegen.

Die Mitgliedsorganisationen des Bayerischen Bündnisses für Toleranz bekämpften rechtsextreme, antisemitische und rassistische Einstellungen, Haltungen und Handlungen, nicht aber die Menschen, die hinter diesem Gedankengut und diesen Aktivitäten stunden (vgl. www.bayerisches-buendnis-fuer-toleranz.de/buendnis-fuer-toleranz/ziele/ Stand: 21.07.2021). Zu den aktuell 79 Mitgliedern des Bündnisses gehören neben dem Bayerischen Landtag überwiegend Anstalten, Stiftungen und Körperschaften des öffentlichen Rechts aus Politik, Wirtschaft, Bildung und anderen gesellschaftlich relevanten Bereichen. Seitens der Staatsregierung gehören dem Bündnis etwa das Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration, das Staatsministerium für Arbeit, Familie und Soziales und das Staatsministerium für Unterricht und Kultus an. Die genaue Mitgliederliste ist auf der Homepage des Bayerischen Bündnisses für Toleranz veröffentlicht (www.bayerisches-buendnis-fuer-toleranz.de/buendnis-fuer-toleranz/mitglieder/).

Im Jahr 2009 hat die frühere Präsidentin des Bayerischen Landtags die Mitgliedschaft des Landtags im Bayerischen Bündnis für Toleranz veranlasst. Hierfür wurden im Rahmen des Haushaltsplans (Einzelplan 01 des Landtags) jeweils Haushaltsmittel für die „Öffentlichkeitsarbeit des Landtags“ bereitgestellt. Zur Unterstützung der Arbeit des Bündnisses hat der Landtag seit 2009 jährlich Mitgliedsbeitrage geleistet, zunächst in Hohe von 10 000 Euro, dann von 20 000 Euro und schließlich im Kalenderjahr 2020 in Hohe von 25 000 Euro.

Am 31. Juli 2019 stellte der Antragsteller zu 2 eine schriftliche Anfrage zur Mitgliedschaft des Bayerischen Landtags im Bayerischen Bündnis für Toleranz an die Staatsregierung, welche das Bayerische Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration im Einvernehmen mit der Staatskanzlei, dem Staatsministerium für Unterricht und Kultus und dem Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales am 23. September 2019 beantwortete (vgl. LT-Drs. 18/3727 v. 08.11.2019). Hinsichtlich der Fragen zur Mitgliedschaft des Landtags als Legislativorgan erklärte sich die Staatsregierung als Exekutivorgan für nicht zuständig. Mit Schreiben vom 14. Mai 2020 beantragte der Antragsteller zu 2 die Aufnahme des Tagesordnungspunkts „Mitgliedschaft des Bayerischen Landtags im Bayerischen Bündnis für Toleranz“ auf die Tagesordnung der Ältestenratssitzung vom 27. Mai 2020. In der Sitzung wurden von der Antragsgegnerin seine diesbezüglichen Fragen beantwortet und insbesondere klargestellt, dass der Landtag als Legislativorgan Mitglied im „Bayerischen Bündnis für Toleranz“ sei. Mit Schriftsatz vom 2. November 2020 beantragen die Antragsteller, gegenüber der Antragsgegnerin festzustellen, dass 1. die gewesene Landtagspräsidentin den Landtag verfassungswidrig zur Mitgliedschaft in dem „Bayerischen Bündnis für Toleranz“ eingetragen hat, 2. die Mitgliedschaft des Bayerischen Landtags in dem „Bayerischen Bündnis für Toleranz“ nichtig ist, 3. der Landtagspräsidentin die Pflicht obliegt, die Mitgliedschaft des Bayerischen Landtags in dem „Bayerischen Bündnis für Toleranz“ für nichtig zu erklären, hilfsweise zu kundigen.

Aus den Gründen

1 – 20 I. – III. …

21 IV. Der Antrag ist unzulässig.

22 Nach Art. 64 BV, Art. 49 Abs. 1 VfGHG entscheidet der Verfassungsgerichtshof über Verfassungsstreitigkeiten zwischen den obersten Staatsorganen oder in der Verfassung mit eigenen Rechten ausgestatteten Teilen eines obersten Staatsorgans. Als Teile des Landtags sind sowohl einzelne Abgeordnete als auch Fraktionen grundsätzlich antragsberechtigt (stRspr; vgl. VerfGH, E.v. 19.07.1989 VerfGHE 42, 108/113 f.; E.v. 17.02.1998 VerfGHE 51, 34/39; E.v. 26.02.2019 NVwZRR 2019, 841 Rn. 38). Die Verfassungsstreitigkeit (Organstreit) ist nur zulässig, wenn sie ein zwischen den Verfahrensbeteiligten bestehendes Rechtsverhältnis betrifft, das sich aus der Verfassung ableitet (VerfGHE 42, 108/114 m. w. N.; VerfGH, E.v. 30.09.1994 VerfGHE 47, 194/198). Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs kann ein Antragsteller die Überprüfung einer Maßnahme darüber hinaus nur insoweit begehren, als er durch sie in eigenen, durch die Verfassung geschützten Rechten verletzt zu sein behauptet (vgl. Verf- GHE 51, 34/40 m. w. N.).

23 Die gegen die (derzeitige) Präsidentin des Bayerischen Landtags als Antragsgegnerin gerichteten Einzelantrage fuhren zu keiner Sachentscheidung im Organstreitverfahren, da sie in mehrfacher Hinsicht unzulässig sind.

24 1. Die von den Antragstellern verfolgten Begehren sind – abgesehen davon, dass der Antrag zu 2 sich schon nicht auf eine Maßnahme (ein Tun oder Unterlassen) bezieht – kein zulässiger Gegenstand eines Organstreits.

25 Ein solches Verfahren dient als kontradiktorische Parteistreitigkeit maßgeblich der gegenseitigen Abgrenzung der Kompetenzen von Verfassungsorganen oder ihrer Teile in einem Verfassungsrechtsverhältnis, nicht hingegen der Kontrolle der objektiven Verfassungsmäßigkeit eines bestimmten Organhandelns; Art. 64 BV eröffnet nicht die Möglichkeit einer objektiven Beanstandungsklage. Demgemäß stellt der Verfassungsgerichtshof im Organstreit lediglich fest, ob die beanstandete Maßnahme gegen verfassungsmäßige Rechte verstößt (vgl. z. B. VerfGHE 51, 34; VerfGH v. 06.06.2011 VerfGHE 64, 70; v. 01.12.2020 – Vf. 90-IVa-20 – juris Rn. 18; Muller in Meder/Brechmann, Die Verfassung des Freistaates Bayern, 6. Aufl. 2020, Art. 64 Rn. 13; einschränkend für den Erlass einer Rechtsvorschrift betreffende Streitigkeiten Wolff in Lindner/Mostl/Wolff, Verfassung des Freistaates Bayern, 2. Aufl. 2017, Art. 64 Rn. 21). Es obliegt sodann dem jeweiligen Verfassungsorgan selbst, einen festgestellten verfassungswidrigen Zustand zu beenden. Für eine objektive Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Maßnahme ist daher im Organstreit ebenso wenig Raum wie für eine über die Feststellung einer Verletzung der Rechte der Antragsteller hinausgehende Verpflichtung eines Antragsgegners zu einem bestimmten Verhalten (VerfGH, E.v. 01.12.2020 – Vf. 90-IVa-20 – juris Rn. 18; E.v. 06.05.2021 – Vf. 37-IVa-21 – juris Rn. 16, 20 m. w. N.; vgl. auch BVerfG, E.v. 22.07.2020 NVwZ 2020, 1422 Rn. 39; E.v. 02.03.2021 NVwZ 2021, 555 Rn. 57 zum bundesrechtlichen Organstreit, je m. w. N.).

26 Die einzelnen Antrage der Antragsteller sind demnach auf Rechtsfolgen gerichtet, die im Organstreitverfahren grundsätzlich nicht bewirkt werden können.

27 Mit dem Antrag auf Feststellung, dass die vormalige Landtagspräsidentin den Landtag verfassungswidrig zur Mitgliedschaft in dem „Bayerischen Bündnis für Toleranz“ eingetragen habe (Antrag zu 1), wird die Feststellung der objektiven Verfassungswidrigkeit einer Maßnahme der früheren Landtagspräsidentin begehrt, die im Organstreit nicht erfolgen kann. Die begehrte Feststellung der Nichtigkeit der Mitgliedschaft des Bayerischen Landtags in dem „Bayerischen Bündnis für Toleranz“ (Antrag zu 2) betrifft schon ihrer Fassung nach weder ein Rechtsverhältnis von Organen noch eine verfassungsspezifische Fragestellung. Mit dem Antrag festzustellen, dass der Landtagspräsidentin die Pflicht obliege, die Mitgliedschaft des Bayerischen Landtags in dem „Bayerischen Bündnis für Toleranz“ für nichtig zu erklären, hilfsweise zu kundigen (Antrag zu 3), soll die Landtagspräsidentin zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet werden, wofür im Organstreit kein Raum ist.

28 2. Soweit man zugunsten der Antragsteller davon ausgeht, dass in den Antragen zu 1 und 3 ein grundsätzlich statthaftes Begehren mit enthalten ist – im Antrag zu 1 das Begehren auf Feststellung, dass die Begründung der Mitgliedschaft im Bayerischen Bündnis für Toleranz im Jahr 2009 durch die vormalige Landtagspräsidentin verfassungsmäßige Rechte der Antragsteller verletzt habe, im Antrag zu 3 das Begehren auf Feststellung, dass das Unterlassen einer Beendigung der Mitgliedschaft durch die Antragsgegnerin verfassungsmäßige Rechte der Antragsteller verletze –, ist die Verfassungsstreitigkeit mangels Antragsbefugnis dennoch unzulässig.

29 a) Der Antrag zu 1 betrifft kein „zwischen den Beteiligten bestehendes Rechtsverhältnis, das sich aus der Verfassung ableitet“. Insoweit ist schon fraglich, ob sich die jetzige Landtagspräsidentin eine Maßnahme ihrer Vorgängerin im Amt aus dem Jahr 2009 zurechnen lassen musste. Jedenfalls fehlt es an der erforderlichen schlüssigen Darlegung einer möglichen Verletzung eigener Rechte der Antragsteller schon deshalb, weil die Antragsteller damals noch nicht im Parlament vertreten und damit von der damaligen Maßnahme nicht betroffen waren. Die Antragstellerin zu 1 kann sich auch nicht erfolgreich auf die Verletzung von Rechten des Bayerischen Landtags berufen. Die Möglichkeit einer Prozessstandschaft sieht das bayerische Verfassungsrecht – anders als § 64 Abs. 1 BVerfGG (vgl. dazu etwa BVerfG, E.v. 07.03.1953 BVerfGE 2, 143) – entgegen der Ansicht der Antragsteller nicht vor (vgl. VerfGH, E.v. 14.09.2020 – Vf. 70-IVa-20 – juris Rn. 10; E.v. 06.05.2021 – Vf. 37-IVa-21 – juris Rn. 24; Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 1991, § 23 Rn. 46; Wolff in Lindner/ Mostl/Wolff, Verfassung des Freistaates Bayern, Art. 64 Rn. 11; Muller in Meder/Brechmann, Die Verfassung des Freistaates Bayern, Art. 64 Rn. 8; Holzner, Verfassung des Freistaates Bayern, 2014, Art. 64 Rn. 14).

30 b) Hinsichtlich des Antrags zu 3 – ein grundsätzlich statthaftes Begehren insoweit unterstellt – fehlt sämtlichen Antragstellern ebenfalls die Antragsbefugnis. Sie haben nicht schlüssig dargetan, durch das beanstandete Unterlassen einer Beendigung der Mitgliedschaft des Landtags im Bayerischen Bündnis für Toleranz in eigenen, durch die Verfassung geschützten Rechten verletzt oder gefährdet zu sein.

31 aa) Die Antragstellerin zu 1 kann sich insoweit, wie eben ausgeführt, von vornherein nicht auf eine etwaige Verletzung von Rechten des Landtags stutzen. Im Übrigen fehlte es mangels Stellung eines entsprechenden Parlamentsantrags zusätzlich an dem auch für den Organstreit erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis (vgl. etwa BVerfG, E.v. 18.12.1984 BVerfGE 68, 1/77; Muller in Meder/Brechmann, Die Verfassung des Freistaates Bayern, Art. 64 Rn. 11), soweit die Antragstellerin zu 1 – unter Berufung auf den Grundsatz der Diskontinuität – ruht, der Landtag müsse jeweils am Anfang einer Legislaturperiode neu über die Mitgliedschaft in dem Bündnis entscheiden.

32 Ebenso wenig kann sie sich auf Rechte der AfD als Partei (Art. 3 Abs. 1, Art. 21 GG) berufen, da als im Organstreit verfolgbare Rechte von Fraktionen nur solche aus dem innerparlamentarischen Bereich in Betracht kommen (VerfGH, E.v. 01.12.2020 – Vf. 90-IVa-20 – juris Rn. 16; vgl. auch BVerfG, E.v. 30.10.2018 BVerfGE 150, 163 Rn. 14 m. w. N.).

33 bb) Soweit sich die Antragsteller auf eine Verletzung ihres jeweiligen Rechts aus Art. 13 Abs. 2 BV (sog. freies Mandat) beziehungsweise auf Oppositionsrechte durch die behauptete Verletzung der Pflicht der Antragsgegnerin zur Neutralität, Sachlichkeit und organschaftlichen Treue berufen, machen sie zwar eine Verletzung eigener Rechte geltend. Allerdings musste die zur Nachprüfung gestellte Maßnahme rechtserheblich sein oder sich zumindest zu einem die Rechtsstellung der Antragsteller beeinträchtigenden, rechtserheblichen Verhalten verdichten können (VerfGH NVwZ-RR 2019, 841 Rn. 46 m. w. N.). Dies musste sich aus dem Sachvortrag ergeben (vgl. BVerfG, E.v. 08.06.1982 BVerfGE 60, 374/380 f.; E.v. 17.09.2013 BVerfGE 134, 141 Rn. 161). Erforderlich, aber auch ausreichend wäre es, wenn die Verletzung eigener Rechte schlüssig dargelegt wurde und nach dem Vortrag möglich erschiene (vgl. BVerfG, E.v. 17.07.1995 BVerfGE 93, 195/203; E.v. 21.07.2000 BVerfGE 102, 224/232). Hieran fehlt es.

34 (1) Gem. Art. 13 Abs. 2 BV sind die Abgeordneten Vertreter des Volkes, nicht lediglich einer Partei; sie sind nur ihrem Gewissen verantwortlich und an Auftrage nicht gebunden. Diese Verfassungsnorm gibt jedem Abgeordneten das subjektive Recht, sein Mandat innerhalb der Schranken der Verfassung ungehindert auszuüben (sog. freies Mandat; vgl. VerfGH NVwZ-RR 2019, 841 Rn. 54 m. w. N.). Zugleich ist hieraus das Prinzip der egalitären Repräsentation abzuleiten, das zur Folge hat, dass alle Mitglieder des Parlaments einander formal gleichgestellt sind (VerfGH, E.v. 30.07.2018 BayVBl. 2019, 158 Rn. 58). Denn sie repräsentieren in ihrer Gesamtheit als Volksvertretung im Sinn des Art. 4 BV die stimmberechtigten Burger (VerfGH, E.v. 26.03.2018 BayVBl. 2018, 590 Rn. 112), wobei sich die durch Art. 14 Abs. 1 Satz 1 BV geforderte Gleichheit der Wahl in der Gleichheit der gewählten Abgeordneten widerspiegelt (Huber in Meder/Brechmann, Die Verfassung des Freistaates Bayern, Art. 13 Rn. 5; Mostl in Lindner/Mostl/Wolff, Verfassung des Freistaates Bayern, Art. 13 Rn. 10). Das daraus resultierende Recht auf Chancengleichheit bei der Parlamentsarbeit kann auch die Antragstellerin zu 1 als Zusammenschluss von Abgeordneten für sich in Anspruch nehmen. Wegen ihrer Zugehörigkeit zur parlamentarischen Opposition sind die dargestellten Rechte zudem in Art. 16a Abs. 1 und 2 Satz 1 BV begründet (VerfGH NVwZRR 2019, 841 Rn. 58).

35 (2) Aus dem Grundsatz der chancengleichen Beteiligung an der parlamentarischen Willensbildung folgt die Verpflichtung der Staatsorgane, gegenüber den Abgeordneten und den Fraktionen auch im Hinblick auf die Parlamentsarbeit Neutralität zu wahren (vgl. zur Neutralitätspflicht im politischen Wettbewerb der Parteien VerfGH NVwZ-RR 2019, 841 Rn. 73; BVerfG, E.v. 27.02.2018 BVerfGE 148, 11 Rn. 44 ff.). Dies gilt insbesondere für die Antragsgegnerin, die zum einen als Präsidentin den Bayerischen Landtag, somit eines der obersten Staatsorgane, repräsentiert und der zum anderen in speziellen Bereichen (vgl. z. B. Art. 18 Abs. 2, Art. 44 Abs. 3 Satz 4 BV) eine eigenständige Organstellung zukommt (Schweiger in Nawiasky/Schweiger/Knöpfle, Die Verfassung des Freistaates Bayern, Art. 20 Rn. 2, Art. 21 Rn. 2; Huber in Meder/Brechmann, Die Verfassung des Freistaates Bayern, Art. 21 Rn. 1; Mostl in Lindner/Mostl/Wolff, Verfassung des Freistaates Bayern, Art. 21 Rn. 1). Im Rahmen dieser Tatigkeiten ist die Prasidentin zur parteipolitischen Neutralität und zur unparteilichen Amtsführung verpflichtet (vgl. VerfGH Nordrhein-Westfalen, E.v. 25.10.2016 NVwZ-RR 2017, 217 Rn. 40; Bucker in Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, § 27 Rn. 11). Einseitig – zugunsten oder zulasten einzelner Abgeordneter oder Fraktionen – parteiergreifende Stellungnahmen oder sonstige Maßnahmen lassen sich auch mit der Befugnis zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit nicht rechtfertigen. Durch die Geltung des Neutralitätsgebots darf allerdings die Wahrnehmung der Aufgaben als Parlamentspräsidentin nicht infrage gestellt werden (VerfGH, E.v. 01.12.2020 – Vf. 90-IVa-20 – juris Rn. 22; BVerfGE 148, 11 Rn. 65).

36 (3) Nach diesen Maßgaben ist nicht erkennbar, dass die Antragsgegnerin durch das Unterlassen des Austritts aus dem Bayerischen Bündnis für Toleranz das Gebot der parteipolitischen Neutralität und der unparteilichen Amtsführung und damit Rechte der Antragsteller aus Art. 13 Abs. 2 BV bzw. Art. 16a Abs. 1 und 2 Satz 1 BV verletzt haben konnte.

37 Die Unterstützung des Bayerischen Bündnisses für Toleranz durch die Mitgliedschaft des Bayerischen Landtags und die Zahlung eines jährlichen Mitgliedschaftsbeitrags erfolgt in Vollzug des vom Landtag in Ausübung seines Budgetrechts aus Art. 70 Abs. 2 und 3, Art. 73 BV für seine Öffentlichkeitsarbeit beschlossenen Haushalts (Einzelplan 01 des Bayerischen Landtags, Haushaltsstelle Kapitel 0101, Titel 53121). Das unterstutzte Bündnis ist überparteilich. Es tritt für den Schutz von Demokratie (Art. 2, 4 BV) und Menschenwurde (Art. 100 BV) ein, also für in Art. 75 Abs. 1 Satz 2 BV umschriebene fundamentale und unabänderliche Verfassungsprinzipien (VerfGH, E.v. 21.11.2016 VerfGHE 69, 290 Rn. 120), an die die Landesverfassungen auch nach Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG gebunden sind (vgl. VerfGH, E.v. 03.12.2019 BayVBl. 2020, 226 Rn. 237). Alle Verfassungsorgane haben den Auftrag, diese Grundprinzipien als Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu wahren und zu verteidigen (vgl. BVerfG, E.v. 22.05.1975 BVerfGE 39, 334/349; E.v. 29.10.1975 BVerfGE 40, 287/292; E.v. 25.03.1981 BVerfGE 57, 1/8). Dies beinhaltet auch, aktiv für sie einzutreten (vgl. VerfGH Rheinland- Pfalz, E.v. 27.11.2007 NVwZ 2008, 897/898; ThürVerfGH, E.v. 03.12.2014 VerfGH 2/14 – juris Rn. 75).

38 Die vom Bayerischen Bündnis für Toleranz bekämpften Einstellungen, Haltungen oder Handlungen des Rassismus und des Antisemitismus verstossen ebenso wie der vom Bündnis bekämpfte Rechtsextremismus (vgl. BVerfG, E.v. 17.01.2017 – BVerfGE 144, 20 Rn. 541, 597 f.) gegen das Prinzip der Menschenwürde, das das zentrale Element beziehungsweise den obersten Grundwert der freiheitlichen demokratischen Grundordnung darstellt (VerfGH BayVBl. 2020, 226 Rn. 237; BVerfGE 144, 20 Rn. 529, 538 ff.). Dies gilt insbesondere auch für den Rechtsextremismus, obwohl es für diesen Begriff keine einheitliche Definition gibt, da ihm kein homogenes ideologisches Konzept zugrunde liegt. Vielmehr treten innerhalb des Phänomenbereichs Rechtsextremismus nationalistische, antisemitische, rassistische und fremdenfeindliche Ideologieelemente in verschiedenen Ausprägungen auf. Dabei unterstellen Rechtsextremisten, dass die Zugehörigkeit zu einer Ethnie oder Nation über den tatsachlichen Wert eines Menschen entscheide (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz, www.verfassungsschutz.de/DE/themen/rechtsextremismus/begriff-und-erscheinungsformen/begriff-und-erscheinungsformen_artikel.html Stand: 21.07.2021). Eine derartige Auffassung verstößt gegen die Garantie der Menschenwurde, die insbesondere die Wahrung personaler Individualität, Identität und Integrität sowie die elementare Rechtsgleichheit der Menschen umfasst (BVerfGE 144, 20 Rn. 539), und ist mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung unvereinbar (vgl. ausführlich BayVGH, E.v. 28.02.2020 – 10 CE 19.2517 – juris Rn. 15). Um eine Abgrenzung mit strafrechtlicher Bedeutung und daran etwa zu stellende Bestimmtheitsanforderungen (vgl. BVerfG, E.v. 08.12.2010 – 1 BvR 1106/08 – juris Rn. 20) geht es hier entgegen der Auffassung der Antragsteller nicht.

39 Soweit die Antragsteller die Mitgliedschaft des Landtags im Bayerischen Bündnis für Toleranz für unzulässig halten, weil dieses nicht wertneutral sei, ist hervorzuheben, dass die Bayerische Verfassung – ebenso wie das Grundgesetz – weder wertneutral ist noch sein will und von dem Willen getragen ist, dass die freiheitliche demokratische Grundordnung des Staates – unter Einsatz der Mittel der wehrhaften Demokratie – erhalten bleiben muss (VerfGH, E.v. 26.11.1964 VerfGHE 17, 94/97; E.v. 08.07.1965 VerfGHE 18, 59/70 m. w. N.; VerfGH BayVBl. 2020, 226 Rn. 234 unter Hinweis auf BVerfGE 144, 20 Rn. 531; vgl. auch Huber in Meder/Brechmann, Die Verfassung des Freistaates Bayern, Art. 15 Rn. 2; Mostl in Lindner/Mostl/Wolff, Verfassung des Freistaates Bayern, Art. 15 Rn. 1, 3). In einer Öffentlichkeitsarbeit, die dieses Ziel fordern will, kann daher kein Verstoß gegen die staatliche Neutralitätspflicht liegen.

40 Auch die Toleranz, für die das Bündnis eintritt und die Bestandteil seines Namens ist, stellt in Form des Toleranzgebots ein Verfassungsprinzip dar, auch wenn dieser Begriff in der Bayerischen Verfassung – wie auch im Grundgesetz – nicht ausdrücklich genannt ist; der Gehalt des Toleranzprinzips wird dabei aus verschiedenen Verfassungsartikeln abgeleitet (vgl. Schmitt Glaeser, NJW 1996, 873/876 f. m. w. N.). So hat etwa der Verfassungsgerichtshof Art. 107 Abs. 1 und Art. 136 Abs. 1 BV ein Toleranzgebot für den Staat beziehungsweise Art. 117 BV eine Toleranzpflicht des einzelnen Burgers dahingehend entnommen, andere religiöse oder weltanschauliche Einstellungen zu respektieren (VerfGH, E.v. 01.08.1997 VerfGHE 50, 156/175; vgl. auch BVerfG, E.v. 16.10.1979 – BVerfGE 52, 223/246 zur Bekenntnisfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG), wobei die Glaubens- und Gewissensfreiheit in Art. 107 Abs. 1 BV ebenso wie die Menschenwurde in Art. 100 BV vom Verfassungsgerichtshof als elementare Grundrechtsnormen der Bayerischen Verfassung angesehen werden (VerfGH, E.v. 30.06.1977 VerfGHE 30, 78/88 m. w. N.). Der Name des Bündnisses und sein Einsatz für Toleranz weisen demnach gerade auf seine religiöse und weltanschauliche Neutralität hin. Auch eine parteipolitische Ausrichtung des Bündnisses ist nicht ersichtlich. Der von den Antragstellern angestellte Vergleich mit einer Mitgliedschaft des Landtags in der CSU oder der katholischen Kirche geht ersichtlich fehl. Die jeweilige (gesellschafts-)politische oder religiöse Ausrichtung einzelner Mitgliedsorganisationen kann nicht mit der Agenda des Bündnisses gleichgesetzt werden.

41 Dass nach alledem durch die Unterstützung einer Vereinigung, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, sich für verfassungsrechtliche Grundwerte, insbesondere für das Demokratieprinzip und die Menschenwurde – also unabänderliche Grundwerte der Bayerischen Verfassung (Art. 2, 4, 100, 75 Abs. 1 Satz 2 BV), denen alle Verfassungsorgane verpflichtet und die als solche jeder parteipolitischen Disposition entzogen sind (vgl. VerfGH, E.v. 01.12.2020 – Vf. 90-IVa-20 – juris Rn. 24) – einzusetzen, die Rechte der Antragsteller aus Art. 13 Abs. 2 BV bzw. Art. 16a Abs. 1 und 2 Satz 1 BV verletzt werden konnten, ist auf der Grundlage ihres Vortrags nicht ersichtlich. Insbesondere erschließt sich nicht, inwieweit hierin eine „Abmachung über die Ausübung des Mandats“ liegen konnte.

(VBlBY 21/2021)